Innere Abneigung

Perlen von Holstein Folge 131

Herr Kaiser hatte zu Anfang des Jahres eines klargestellt: «Nach spätestens drei Wochen will ich die ersten von euch ohne Mappe sehen!» Gemeint hatte er damit, dass wir die neuen Stücke gefälligst binnen kürzester Zeit auswendig zu können hatten. Zumindest die einfachen. Mich mit derartigen Arbeitsnormen zu behelligen, war gar nicht nötig. Im raschen Einprägen von Chorsätzen erfüllte ich auch so wieder jedes Plansoll über. Nach drei Wochen konnte ich nicht nur beinahe jedes Stück von jeder beliebigen Stelle aus singen. Ich konnte sogar bei jeder Passage sagen, auf welcher Seite und in welcher Zeile sie stand. Fast schon vergessen waren die ersten Tage im Männerchor, als mir das Auswendiglernen so sonderbar schwer gefallen war.

Im Grunde nämlich war nichts dabei, schon gar nicht, wenn man Bass war. Die meisten Bass-Linien waren nach einem logischen und vorhersehbaren Schema aufgebaut. Dem gerade gesungenen Ton konnten nur wenige verschiedene folgen. Natürlich gab es zuweilen auch Überraschungen. Diese waren es dann, die einem Stück seinen Charakter verliehen. Folglich waren sie erst recht einfach auswendig zu lernen.

Die Tatsache, dass Bass-Linien logisch und vorhersehbar aufgebaut waren, half übrigens auch beim Vom-Blatt-Singen. Ich fragte mich immer mehr, warum Herr Kaiser damals im Mutantenchor diese schrecklichen Gehörbildungsübungen mit uns gemacht hatte. Es war wirklich gar nicht nötig, jedes einzelne Intervall jederzeit abrufbereit im Kopf zu haben. Es genügte, anhand des Notenbilds abzuschätzen, wie groß der nächste Sprung sein würde. Von den wenigen Tönen, die dem gerade gesungen folgen konnten, erwischte man dann meist schon den richtigen.

Es waren nicht unbedingt wenige neue Stücke, die wir dieses Jahr sangen. Grund dafür war Herrn Kaisers Doktrin, kein Stück länger als zwei Jahre zu singen. Das sollte nicht bedeuten, dass es kein Wiedersehen mit alten Bekannten gegeben hätte. Vater Unser von Heinrich Schütz hatten wir 2003 schon einmal gesungen. Damals in Kombination mit Aller Augen warten auf dich, Herre. Letzteres hatten wir 2005 erneut im Programm gehabt. Allerdings in Kombination mit Herre Gott, himmlischer Vater. Dieses Jahr sangen wir alle drei Stücke. Kein schlechter Einfall, waren sie alle Teil eines zusammenhängen Werkes namens Das Benedicite vor dem Essen.

Es gefiel mir deutlich besser als Also hat Gott die Welt geliebt. Es war nicht so schwerfällig und hatte zudem eine Gemeinsamkeit mit Gunsenheimers Jesus und die Tochter des Jairus: Man fand jedes Wort des Textes auf irgendeine Weise in den Noten wieder. Wenn wir sangen ‹Vater unser, der du bist im Himmel› klang des nicht routiniert heruntergebrabbelt wie im Gottesdienst-Gebet. Es verhieß Ehrfurcht, ja sogar ein wenig Angst. Diese Angst wich tiefem Vertrauen und noch tieferer Ergebenheit, wenn es dann hieß ‹Geheiligt werde dein Name›.

Ich war wirklich beeindruckt. Tausend Mal hatte ich diese Worte schon bei Chorterminen pflichtbewusst mitgesprochen. Niemals hätte ich für möglich gehalten, dass derartige Gefühlsregungen in ihnen stecken. Heinrich Schütz hatte sie mit seiner Musik zum Vorschein gebracht. Wie genau er das gemacht hatte, war schwer zu fassen. Das unterschied das Stück von Jesus und die Tochter des Jairus. Hier war immer recht deutlich zu erkennen gewesen, auf welche Weise welcher Effekt, welche Emotion erzeugt wurde. Bei Vater Unser konnte ich streckenweise die Gefühle nicht einmal benennen, die die Noten in mir auslösten. Für die Wirkung von Heinrich Schütz’ Musik schien aber unabdingbar zu sein, dass man den Text verstand. Mit dem neuen Stück Aspice Pater, das ebenso von ihm war, wurde ich irgendwie nicht so recht warm.

Cantate Domino war im vergangenen Jahr sicher eines der beliebtesten Stücke gewesen. Von wem es gewesen war, hatte keiner von uns gewusst. Darüber hatten sich die Noten ausgeschwiegen. Ich hatte es mittlerweile eher zufällig in Erfahrung bringen können. Das Stück befand sich nämlich auf der CD von Herrn Kaisers altem Chor, dem Amadeus-Chor Berlin. Ich hatte sie Weihnachten 2004 als ein Verlegenheitsgeschenk von unserem Chorleiter überreicht bekommen. Das eigentliche Chorgeschenk, also irgendein Gegenstand mit Knabenchor-Logo, war bereits vergriffen gewesen. Ein glücklicher Umstand, denn so hatte ich nun eine Aufnahme von Cantate Domino und wusste, wer es komponiert hatte: Hans Leo Hassler, der Schöpfer des Partylieds Nun fanget an. Erstaunlich, was alles möglich war.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Es ist ganz und gar nichts Ungewöhnliches für einen Komponisten der Renaissance, dass seine geistliche Musik überaus geistlich und weltliche Musik überaus weltlich war. Ein Paradebeispiel hierfür ist Orlando di Lasso. Der Mann schrieb so ziemlich das verruchteste, was es überhaupt an Madrigalen gibt. Zugleich schuf er mit den Psalmi Davidis poenitentiales die Möglichkeit für das Singen ebendieser Madrigale Buße zu tun. Aufrichtigere Reue und Demut nämlich wird man so schnell nicht finden.

‹Was Hans Leo Hassler kann, kann ich schon lange›, mochte sich Vytautas Miškinis gedacht haben, als er 1997 ebenso ein Cantate Domino komponiert hatte. Herr Kaiser schien darin mit ihm übereinzustimmen. Statt Cantate Domino von Hassler sangen wir dieses Jahr nämlich Cantate Domino von Miškinis. Ein Werk, das schon für Irritationen gesorgt hatte, bevor wir es überhaupt gesungen hatten.

«Wie spricht man den Namen des Komponisten aus?», hatte Imanuel gefragt.

«Wenn du mir einfach bis zum Ende zuhören würdest, dann würdest du das auch erfahren!», hatte Herr Kaiser erwidert. Und damit einmal mehr gezeigt, wie kurios er mitunter war. Ich verstieß zuweilen gegen so ziemlich jede Regel, die der Mann aufstellte. Trotzdem zeigte er immer wieder recht deutlich, dass er mich hochsympathisch fand. Imanuel hingegen war stets um vorbildliches Verhalten bemüht. Dennoch konnte unser Chorleiter ihn irgendwie nicht ausstehen.

Die Irritationen hatten indes beim Namen des Komponisten noch lange nicht geendet. Miškinis’ Musik nämlich war keine, mit der wir so recht warm wurden. Nicht, weil sie uns zu modern gewesen war, denn: sonderlich modern war sie nicht. Es gab keine Sprechgesänge, keine Flüsterchöre und auch sonst nichts, dass jemandes Musikbegriff auf die Probe hätte stellen können. Das ganze Stück bestand aus stinknormalen Noten. Hätten wir das als zu modern empfunden, Gerd Domhardt wäre vor Lachen von der Wolke gestürzt, auf der er seit inzwischen neun Jahren saß. Gegen seine berühmt-berüchtigten NachtGedanken war Cantate Domino von Miškinis ein ziemlich laues Nümmerchen.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Als wie modern etwas empfunden wird, hängt immer von der Zeit und dem Umfeld ab, in dem es entsteht. Der Gemeinde von Arnstadt jedenfalls waren die Orgelvorspiele, die der junge Johann Sebastian Bach ihnen bot, entschieden zu lang und zu verschlungen. Man hielt ihm vor, «daß er bisher in den Choral viele wunderliche variationes gemachet, viele frembde Thone eingemischet, daß die Gemeinde darüber confundiret worden.» Bach reagierte auf die Kritik bekanntermaßen erwachsen: Er machte fortan viel zu kurze Vorspiele. Seine wunderlichen Variationen hallten indes noch lange nach. Noch vierzig Jahre später sollte sein Erstgeborener Wilhelm Friedemann sich vertraglich verpflichten müssen, Gemeindegesänge «langsam und ohne sonderbahres coloriren» zu begleiten.

Cantate Domino von Miškinis war uns definitiv nicht zu modern. Es war zumindest mir einfach viel zu bieder. Der Anfangsteil klang für mich wie das Intro einer Fernsehserie über ein katholisches Mädcheninternat. Während in grellen Neonfarben die Namen der Mitwirkenden über den Bildschirm flimmerten, sah man ein Potpourri der lustigsten und tragischsten Momente. Der Mittelteil schien eher versucht zu sein, die Erhabenheit einer Klosterruine einzufangen, in deren Fenster die Sonne eindrang. Ein Pfad, den Herr Miškinis ruhig weiter hätte beschreiten können. Leider kehrte das katholische Mädcheninternat recht bald zurück.

Einige Wochen probten wir das Stück nun schon. Mit Miškinis’ Musik waren wir noch immer nicht warm geworden. Dem guten Max-Frederick schienen im Gegenteil die an Fäkalsprache reichen Kommentare dazu einfach nicht auszugehen. Wir machten immer wieder die gleichen blöden Fehler. Beim Mittelteil hätten wir etwa einfach einmal merken müssen: Beim ersten Mal sangen zuerst die Knaben et benedicite, beim zweiten Mal zuerst wir Männer. Wir merkten es uns jedoch nicht. Es war uns der Mühe nicht wert.

Herr Kaiser war am Verzweifeln.

«Leute, seid ihr wirklich damit überfordert, ein Stück zu singen, dass mal ein bisschen schwerer ist? Kann ich mit euch wirklich nur so Sachen machen wie Wirf dein Anliegen auf den Herrn? Wisst ihr, das habe ich damals mit meinem allerersten Chor gesungen. Einem Chor, der nur aus hochmotivierten Rentnern bestand. Das ist ein schönes Stück. Beim ersten und einzigen Konzert mussten wir das in der Zugabe fünf Mal singen, so begeistert waren die Zuhörer und die Beteiligten davon. Aber ist das wirklich unser Anspruch? Wollen wir nicht auch etwas singen, das nicht jeder x-beliebige Chor auch singt? Etwas, das eben ein bisschen schwerer ist?»

Dagegen hätte man nun einwenden können, dass der Schwierigkeitsgrad ganz gewiss nicht das Problem war. O Heiland, reiß die Himmel auf war nach meiner Auffassung bedeutend härter gewesen. Wir hatten es dennoch meist ohne größere Schwierigkeiten über die Bühne gebracht. Einfach, weil uns das Werk gefallen hatte. Das hätte man einwenden können. Doch Herr Kaiser war längst bei den Veteranengeschichten angekommen.

«Leute, wisst ihr eigentlich, wie gut ihr es bei mir habt? Wenn wir im Dresdner Kreuzchor früher die Matthäus-Passion mitgesungen haben, dann durften wir nicht nach dem ersten Satz von der Bühne runter und nach Hause gehen. Dann mussten wir da bleiben, die ganzen vier Stunden da bleiben. Und da durften wir uns nicht hinsetzen, da mussten wir stehen. Würdet ihr das eigentlich durchhalten?»

Nein, das würden wir nicht. Wir waren nicht der Dresdner Kreuzchor. Wir waren der Neue Knabenchor Hamburg.