Anima mia perdona

Perlen von Holstein Folge 122

Der Überfall kam, als ich am wenigsten damit rechnete: Mitten in der Stunde.

«Lennart, gehst du mal bitte mit den beiden nach draußen, die wollen etwas mit dir besprechen», sagte unser Lehrer.

Nun war es also soweit. Meine beiden Schulkameradinnen machten Ernst. Es war klar gewesen, dass es früher oder später dazu kommen würde, gerade weil seit den Ferien nichts geschehen war. Die zwei hatten kein Wort zu ihrer Aktion verloren. Sie hatten gar versucht, mich in Sicherheit zu wiegen. Mich freundlich gegrüßt, als ich sie einmal auf der Straße getroffen hatte. Ich war einfach wortlos an ihnen vorbeigelaufen. Ich hatte nicht vor, mich für dumm verkaufen zu lassen.

Jetzt, wo sie zum Angriff übergegangen waren, würde mir Schweigen aber nicht mehr viel helfen. Es war an der Zeit, in den offenen Widerstand zu treten.

«Ich geh’ ganz bestimmt nicht raus», sagte ich.

Natürlich wusste ich, dass das sinnlos war. Was ich dachte, interessierte hier keinen. Ich würde mit den beiden nach draußen gehen, ob ich wollte oder nicht. Immerhin konnte ich durchsetzen, dass ein Vermittler mitkam. Wer das war, bestimmten aber die beiden.

So ging es in den Vorraum unseres Klassenzimmers. Hier standen schon die Stühle bereit. Ich setzte mich auf den, der am weitesten von den übrigen entfernt stand und machte ein unkooperatives Gesicht.

Als erstes sprach der Vermittler.

«Ja also, Mädels, jetzt sagt doch einfach nochmal ganz genau, was Sache ist. Ich habe das Gefühl, dass Lennart das noch nicht so ganz verstanden hat.»

«Er weiß ganz genau, was Sache ist», erwiderte eine der beiden, «Lennart, kannst du jetzt einfach mal sagen, was der ganze Scheiß eigentlich soll?»

Ich wäre am liebsten einfach aufgestanden. Ich war nicht gewillt, mich ins Kreuzverhör nehmen zu lassen. Doch wenn ich jetzt ging, würde man mir das nur als Beweis für was auch immer auslegen. Ich blieb also sitzen.

«Die Frage wollte ich dir auch gerade stellen», sagte ich.

«Sag mal: Bist du völlig bescheuert? Merkst du nicht –»

Der Vermittler wollte eingreifen, doch die andere der beiden kam ihm zuvor. Sie war hörbar bemüht, so wenig quäkig wie möglich zu klingen.

«Also, Lennart, was wir dir eigentlich sagen wollten: Weißt du, zum Beispiel neulich in Sport, als du da alleine auf der Bank gesessen hast und wir uns zu dir gesetzt haben. Da wollten wir wirklich nur nett sein. Und du machst uns gleich voll an.»

An einen solchen Vorfall konnte ich mich nicht erinnern. Und wenn ich mich an einen solchen Vorfall nicht erinnerte, dann hatte er sich nicht ereignet. An Fälle von herablassendem Verhalten erinnerte ich mich immer. Und was faselte die nun von Sportunterricht und dumm anmachen? Ich dachte, hier würde eine Morddrohung verhandelt. Den Einlassungen der beiden zufolge hatte ich eine solche doch ausgesprochen. Den Einlassungen der beiden zufolge war von mir Killerspiel-Spieler auch nichts anderes zu erwarten. Vor allem aber: Warum machte die eine jetzt einen auf verständnisvoll, während die andere herumzickte? Versuchten die gerade Guter Bulle, böser Bulle mit mir zu spielen? Hielten die mich ernsthaft für so blöd?

Es war wohl davon auszugehen.

Eine Gegentaktik war rasch entwickelt: Ich musste die Attacken der bösen Bullin parieren und die diversen Angebote der guten Bullin geflissentlich ignorieren. Das fiel leicht: Die böse Bullin schien so überzeugt davon, dass ich ein fieser Kerl war, es brachte sie schon aus dem Konzept, dass ich mich anders einschätzte. Im Falle der guten Bullin fragte ich mich, wie sie sich mit ihrer Vorgehensweise überhaupt selbst ernst nehmen konnte. Mit ihrem ständigen Gekeife über meinen Gesang und mein Gelächter hatte sie schließlich regelrecht um meine Gegnerschaft gebettelt.

Die böse Bullin begriff bald, dass mir mit Gezeter allein nicht beizukommen war. Sie griff zum äußersten Mittel.

«Heißt das, dass du die ganze Sache hier auch wieder nicht ernst nimmst?», fragte sie.

«Nö», erwiderte ich. ‹Nö› im Sinne von ‹Nein, ich nehme die Sache absolut nicht ernst.› Das stimmte zwar nicht, war aber allem Anschein nach das, was sie nicht hören wollte. Die Heftigkeit ihrer Reaktion überraschte mich dennoch: Sie stand auf und verließ den Raum. Ich war drauf und dran, ihr mit der Stimme von Lieutenant Eva ‹Spieler wurde besiegt› hinterherzurufen.

Die gute Bullin musste den Kampf alleine fortführen. Ein Umstand, von dem sie sich Gott weiß nicht entmutigen ließ.

«Also, worauf wollt ihr euch denn jetzt einigen?», fragte der Vermittler.

«Ich will, dass wir uns besser verstehen», sagte die gute Bullin. Sie lächelte engelchenhaft. Lächelte, wie man nicht lächelte, wenn jemand einem mit Mord gedroht hatte. Wollte mich dieses Weib verarschen?

«Das ist doch mal ein guter Vorschlag. Ist das okay für dich, Lennart?»

«Nö», erwiderte ich.

Keine Antwort, die ihn befriedigte. Das Gespräch war durch sie dennoch beendet. Wir gingen zurück ins Klassenzimmer.


Ich konnte vorerst aufatmen. Trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit war es mir gelungen, aus dem Kessel auszubrechen und meine Schulkameradinnen zurückzudrängen. Nun aber wartete ein weit mächtigerer Gegner auf mich: Unser Vertrauenslehrer. Bereits vor einigen Tagen hatte er einen Gesprächstermin mit mir vereinbart. Ich hatte keine rechte Ahnung, wie ich ihm gegenübertreten sollte. Ich konnte schließlich nur vermuten, wie er zu der ganzen Sache stand. Nach der Show, die mir die beiden heute geliefert hatten, musste ich aber das Schlimmste befürchten.

Ich wünschte mir gerade nichts sehnlicher, als dass Age of Empires III bereits erschienen wäre. In malerische Naturlandschaften einzutauchen, das wäre jetzt doch genau das Richtige. Leider würde ich mich noch eine Zeit lang in Geduld üben müssen. Solange blieb mir nichts weiter übrig, als mich noch ein drittes Mal durch die graublauen Hightech-Büros von F.E.A.R. zu ballern – diesmal auf einem noch höheren Schwierigkeitsgrad. Dabei konnte ich mich auf die heutige Probe freuen und hoffen, dass wir Uns ist geboren ein Kindelein sangen.

Uns ist geboren ein Kindelein war von Max Reger, musikalisch aber erstaunlich wenig gewöhnungsbedürftig. Ich hatte an der Stimmung des Stückes sofort Gefallen gefunden. Man fühlte sich wie ein Kind, das gebannt lauschte, wie seinem Großmutter einem eine Geschichte vorlas, nein: Man fühlte sich, als würde man sich mit Wehmut daran zurückerinnern, wie einem die Großmutter als Kind Geschichten vorgelesen hatte.

Das war aber nicht der Hauptgrund dafür, dass ich das Stück heute unbedingt singen wollte. Der Hauptgrund war der Text der zweiten Strophe: ‹Hätt’ ich Flügel von Seraphim, wie fröhlich wollte ich fliegen mit den Engeln schön dahin –› Das fasste doch recht gut zusammen, was ich momentan wirklich am allerliebsten getan hätte: Abheben, davonfliegen und erst wieder landen, wenn ich im Märchenland eines Fantasy-Killerspiels angekommen wäre.

Man konnte sich schon fragen, was solche Verse in einem Weihnachtslied zu suchen hatten. Zwar endeten sie pflichtbewusst auf: ‹– zu Jesu, meinem Geliebten›, doch wirkte das auf mich eher wie ein rechtfertigender Nachsatz. Es ging dem Dichter nicht um Jesus. Es ging ihm darum, der Welt zumindest gedanklich entfliehen zu können. Wer konnte ihm das verdenken?

Wir probten nicht Uns ist geboren ein Kindelein, sondern Es kommt ein Schiff, geladen. Das war mir durchaus auch ganz recht. Ich genoss die alten Stücke genauso sehr wie die neuen. Zu Sopran-Zeiten hatte ich sie schließlich gar nicht völlig wahrgenommen, sondern mich nur auf die Melodie konzentriert. Jetzt als Bass spürte ich die Harmonien und erlebte vermeintlich Bekanntes völlig neu.

Herr Kaiser hätte dies bestimmt begrüßt, hätte er davon gewusst. Er war nämlich wie üblich sehr bemüht, uns das Stück nicht so singen zu lassen, wie wir es bei Frau Siebenkittel gesungen hatten. Wir sollten es bitte so singen, wie wir bei Herrn Kaiser sangen. Und bei Herrn Kaiser wurde bei jedem Komma eine kleine Pause gemacht. Wir mussten also ‹Es kommt ein Schiff – geladen› singen und nicht etwa ‹Es kommt ein Schiff geladen›. Dann nämlich würden die Leute denken, dass das Schiff geladen kam. Das aber war völliger Quatsch: Das Schiff kam und war geladen. Bis an sein höchsten Bord.

Wie ernst unser Chorleiter es meinte, machte er uns heute noch einmal unmissverständlich klar.

«Wisst ihr: Ihr könnt dieses Stück ja nennen, wie ihr wollt. Für mich heißt es: Es kommt ein Schiff. Und so werde ich das auch in Zukunft immer nennen. Wenn das einmal passiert, dass ich bei Nennung dieses Stückes ‹geladen› sage, dann kriegt ihr alle ein Eis.»

«David und ich werden schon dafür sorgen, dass sie ‹geladen› sagen», rief ich.

Marc lachte so schallend, als wäre die Äußerung von Herrn Kaiser gewesen.

«Das werden wir sehen, Lennart», sagte Herr Kaiser.

David war wohlgemerkt noch gar nicht da. Er kam heute seine übliche halbe Stunde zu spät. So musste ich ihn in der Pause erst einweihen, bevor wir uns ans Werk machen konnten. Wir warteten, bis sich einige Knaben um Herrn Kaiser geschart hatten und begaben uns zu ihm. David stellte sich neben sein rechtes Ohr, ich neben sein linkes. Wir wollten ihm schließlich ein stereophones Klangerlebnis bieten. Das würde die Wirkung der immer gleichen Worte erhöhen.

Und schon ging es los: «Es kommt ein Schiff geladen, es kommt ein Schiff geladen, es kommt ein Schiff geladen, es kommt ein Schiff geladen, es kommt ein Schiff geladen.»

«Wie bitte, David und Lennart? Es kommt ein Schiff?», sagte unser Chorleiter.

«Geladen!», erwiderte ich.

«Kannst du das bitte nochmal sagen, Lennart? Ich habe dich gerade nicht ganz verstanden.»

«Was steht denn da, Herr Kaiser?», sagte ich. Dabei deutete ich auf die Noten von Es kommt ein Schiff, geladen, die auf dem Flügel lagen.

«Es kommt ein Schiff.»

«Und weiter?»

«Das kann ich irgendwie nicht lesen.»

Endlich geschah, worauf David und ich kalkuliert hatten: Die Knaben schalteten sich ein.

«Es kommt ein Schiff geladen», sagte einer.

«Herr Kaiser, was kommt das Schiff?», ein anderer.

«Herr Kaiser, was steht hier oben auf den Noten?», ein dritter.

Ein klares Zeichen dafür, dass David und ich uns anderen Dingen widmen konnten. Die Knaben würden unserem Chorleiter nun wochenlang keine Ruhe gönnen. Niemand wusste das besser als wir.

Nach der Pause wurde Morle zum Geburtstag sein gegenwärtig sehnsüchtigster Wunsch erfüllt: Er wollte einmal in seinem Leben bei Also hat Gott die Welt geliebt einfach nur lauschen und genießen. Zu diesem Zwecke setzte er sich rechts von Herrn Kaiser auf einen Stuhl. Unser Chorleiter gab einen Einsatz. Wir sangen los.

Also hat Gott die Welt geliebt von Heinrich Schütz bot die wohl wuchtigsten Harmonien, die ich jemals gehört hatte. Und das nicht etwa beim Höhepunkt, sondern das ganze Stück über. Trotz alledem war ich nur sehr bedingt angetan davon. Es war mir einfach viel zu schwerfällig. Das war angesichts des Tempos, indem wir es sangen, schon beachtlich.

Herr Kaiser hatte nie viel zu dem Stück gesagt, eigentlich nur Folgendes: ‹Also› hieß hier nicht also, sondern ‹so sehr› oder ‹in dem Maße›. Deshalb wurde auch nicht die erste Silbe betont, sondern die zweite. Das erklärte immerhin schon einmal den ersten Vers des Stückes: ‹Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingebornen Sohn gab› hieß ‹Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen eingebornen Sohn gab›. Warum das Stück so schwerfällig war, erschloss sich mir daraus aber nicht.

Morles Augen glänzten trotzdem, als wir fertiggesungen hatten.

«Ich danke euch, Leute», sagte er.

Ich hatte ihn selten glücklicher gesehen.