Alpenüberquerung

Perlen von Holstein Folge 116

Von unserem Auftritt in Marktoberdorf würde mir vor allem unser Auftrittsort in Erinnerung bleiben, die Stadtpfarrkirche St. Martin. Sie war so groß wie eine der Hamburger Hauptkirchen und überdies repräsentativ, um nicht zu sagen: protzig. Jeder freie Quadratzentimeter an Decken und Wänden war entweder vergoldet oder mit einem Gemälde versehen worden. Jeder nicht freie Quadratzentimeter trug den Sockel irgendeiner aufwendigen Plastik. Gespart worden war einzig an den Fenstern. Sie bestanden aus rechteckigem Glas ohne Farben oder Muster. Über einen Auswuchs des Katholizismus wie dieses Bauwerk konnte man trotzdem nur staunen. Es stand schließlich nicht in einem Ort, dessen Erdreich von U-Bahn-Tunneln durchzogen wurde. Wenn überhaupt, gab es in Marktoberdorf nur Linienbusse. Und die waren nicht einmal nötig. Die Stadtpfarrkirche St. Martin war von unserer Unterkunft fußläufig zu erreichen gewesen.

Ebendiese Unterkunft mussten wir nun aber schweren Herzens verlassen. Heute würde es tatsächlich endlich nach Italien gehen. Eine Unternehmung, auf die ich mich durchaus freute. Schon lange hatte ich einmal das Mittelmeer sehen wollten. Spätestens, seitdem ich in dem Killerspiel Zero Hour auf der Suche nach einem feindlichen Flugzeugträger die beeindruckende Berglandschaft Kretas hatte durchstreifen dürfen. Eigentlich jedoch schon, als der altertümelnde Soundtrack von Praetorians nicht nur die Mühen des kollektiven Schwertkampfes zwischen korinthischen Säulen, sondern auch die Melancholie italienischer Landschaften erlebbar gemacht hatte. Das jedoch war etwas, das im Bus von KdF-, ähm, KDE-Reisen niemanden zu interessieren brauchte.

«Ach, David», sagte ich, «die Hälfte von der Reise haben wir doch jetzt überstanden.»

David bekam einen Lachanfall.

«Weißt du, haha», sagte er, «ich stelle mir gerade vor, haha, wie einer von uns sagt: ‹Wir haben es überstanden.› Und dann kommt plötzlich so eine unheimliche Melodie, haha, und eine tiefe Stimme aus dem Off sagt: ‹Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben›, hahaha.» Eine Idee, die es sogleich umzusetzen galt.

music snippet

Möglicherweise hatten wir aber tatsächlich schon die komplette Reise überstanden. Herr Kaiser hatte sich den Fuß gebrochen oder verstaucht. So genau wusste das keiner. Jedenfalls manövrierte der Fahrer unseren Bus über enge Bergstraßen zum Landarzt. Dort konnten wir nun ein ungewöhnliches Schauspiel verfolgen: Unser Chorleiter musste auf seinem Weg in die Praxis auf die Schultern von Heidi und Peter stützen.

«Jetzt stell dir vor, ihm ist wirklich etwas ganz Schlimmes passiert und wir können noch heute nach Hause fahren», sagte ich.

«Jetzt hör auf mit dieser paradiesischen Vorstellung!», erwiderte David.

Seiner Stimmlage entnahm ich, dass er kaum weniger daran zweifelte, dass Herr Kaiser uns notfalls auch von einer Bahre aus dirigieren würde.

Einige Minuten später war klar, dass wir nicht nach Hause fahren würden. Mit entschlossenem Blick und zwei Krücken trat unser Chorleiter aus der Praxis heraus.

Marc hätte guten Grund gehabt, die Knaben noch einmal an die verbotenen Fragen zu erinnern. Erneut stand uns eine ganztägige Busfahrt bevor. David und ich fackelten nicht lange.

«Hach, ich liebe dieses Geräusch», sagte ich und klappte meinen Tisch herunter und wieder herauf, «Dieses Geräusch», ich klappte meinen Tisch erneut herunter und wieder herauf, «ist wirklich das Schönste, was es gibt.»

«Meinst du dieses Geräusch?», erwiderte David und klappte meinen Tisch herunter und wieder herauf, «Oder meinst du nicht vielleicht doch dieses Geräusch?» Er klapperte mit seiner Armlehne herum.

«Ja, meine dieses Geräusch», ich klappte meinen Tisch herunter und wieder herauf, «und nicht dieses Geräusch.» Ich klapperte mit Davids Armlehne herum.

«Bist du dir wirklich sicher, dass du dieses Geräusch meinst», David klappte meinen Tisch herunter und wieder herauf, «und nicht dieses Geräusch.» Er klapperte mit seiner Armlehne herum.

«Ja, ich bin mir absolut sicher. Ich meine dieses Geräusch», ich klappte meinen Tisch herunter und wieder herauf, «und nicht dieses Geräusch.» Ich klapperte mit Davids Armlehne herum.

«Leute!», sagte Imanuel. Begriff er wirklich nicht, dass es nicht er es war, auf dessen Reaktion wir kalkulierten?

Endlich kam Marc.

«Lennart und David, ihr hört jetzt sofort auf damit!»

Das Sprachzentrum meines Gehirns erzeugte folgende Sätze: ‹Was, Marc? Wir sollen mit diesen beiden Geräuschen aufhören? Das finde ich jetzt aber unfair, dass wir mit diesen Geräuschen aufhören sollen. David, wie findest du das, dass wir mit diesen Geräuschen aufhören sollen?› Ich stellte mir vor, wie ich zu den Worten ‹diese Geräusche› genüsslich meinen Tisch herunter- und wieder heraufklappen und mit Davids Armlehne herumklappern würde. Ich verkniff es mir aber. Marc sah uns in einer Weise an, die deutlich signalisierte: Heute wurden keine Gefangenen gemacht. Außerdem nahm er uns bei der nächsten Rast zur Seite.

«Leute, ich weiß, dass eine solch lange Busfahrt anstrengend ist. Ich kann verstehen, dass ihr euch langweilt und euch dann in eurem Alter auch mal ausprobieren wollt. Aber bitte: Wenn ihr Scheiße bauen wollt, macht es so, dass am Ende nicht noch irgendwas dabei kaputtgeht. Okay?»

«Alles klar», sagte David, offenbar konsterniert über den Respekt, den Marc uns unverhoffterweise entgegenbrachte.

Als die Fahrt weiterging, kam Marc erneut zu uns nach hinten. Nicht jedoch, um wieder irgendwelche Standpunkte geltend zu machen. Er suchte tatsächlich das Gespräch.

«Weißt du, Lennart», sagte er mit einer Mischung aus Abscheu und Bewunderung, «ich wette, du könntest dir für jeden von uns einen Spitznamen ausdenken, der in einem Wort alles Negative an der Person zusammenfasst.»

«Bestimmt, Marc», erwiderte ich, «Vor allem aber werde ich irgendwann einmal ein Buch schreiben: Personen, die mein Leben entscheidend negativ beeinflusst haben – Marc Fahning

Philipp schlug sich die Hand vor den Mund und lachte stimmlos. Marc trug’s mit Fassung.

Die Fahrt dauerte vor allem deswegen lange, weil sie mehrere Zwischenhalte umfasste. Wir besuchten die Viamala-Schlucht und saßen rund eine Stunde an der Schweizer Grenze fest. Warum auch immer wir nicht einfach über Österreich fuhren, wo es keine Grenzkontrollen mehr gab. Von Italien sahen wir heute nicht sonderlich viel. Als wir dort eintrafen, war es bereits stockfinster.

Irgendjemand hatte es für einen guten Einfall gehalten, uns alle gemeinsam E.T. – Der Außerirdische sehen zu lassen. Wir Männer waren von vornherein anderer Meinung. Die unerträgliche Harmoniebedürftigkeit, die der Streifen bei uns wecken sollte, erinnerte David und mich eher daran, dass wir ja noch ein Hühnchen zu rupfen hatten.

«An-n-n-n-n-n-n!»

«Au-u-u-u-u-u-us!»

«An-n-n-n-n-n-n!»

«Au-u-u-u-u-u-us!»

«Leute», sagte Imanuel. Marc hingegen griff nicht ein. Er sah wohl ein, dass es aussichtslos war, den Konflikt eindämmen zu wollen. Er war nämlich inzwischen auf die Knaben übergeschwappt. Aus fast allen Reihen war es zu hören.

«An-n-n-n-n-n-n!»

«Au-u-u-u-u-u-us!»

«An-n-n-n-n-n-n!»

«Au-u-u-u-u-u-us!»

Max-Frederick hätte wohl gerne mitgekämpft, er fand nur keinen Gegner. Also schaltete er sämtliche Service-Knöpfe der Rückbank ein und genoss seinen Triumph. Nach einiger Zeit bemerkten wir, dass es nach verkohltem Plastik roch.

«Alter», sagte Max-Frederick, «die Service-Knöpfe hier hinten sind ja voll heiß, Mann, hahaha.»

Tatsächlich: Der Geruch ging von den Service-Knöpfen über der Rückbank aus. Es handelte sich um andere Modelle als bei den übrigen Plätzen. Um welche, in die eine normale Glühbirne eingebaut worden war. Eine, die heiß wurde. Offenbar war mal wieder am falschen Ende gespart worden.

Es half nichts: Die Service-Knöpfe über der Rückbank mussten ausgeschaltet werden. Anderenfalls es wohl bald flüssiges Plastik auf Max-Frederick regnen. Dennoch: Als die Fahrt zu Ende war und wir aussteigen mussten, war der überwiegende Teil der Service-Knöpfe eingeschaltet. So glich mein Gang zur Tür einem Triumphmarsch.

«Die Streitkräfte des Lichtes haben über die Finsternis gesiegt!», sagte ich.

Unsere Unterkunft ließ kein bisschen vermuten, dass wir uns in Italien befanden. Die Eingangstür war mit Aufklebern übersät. ‹Wer trinkt, singt›, stand auf einem von ihnen. Das G von ‹singt› war allerdings durchgestrichen und mit einem K überschrieben worden. Daneben war ein Mann mit Bierkrug abgebildet, der sang und sein eigenes Elend offenbar nicht bemerkte. Kurzum: Ein Aufkleber, wie er vor zehn Jahren häufig an Schranktüren in Kellern und Geräteschuppen anzutreffen gewesen war. An die eigene Haustür hatte man sich so etwas zu keiner Zeit gehängt.

Die Aufkleber waren jedoch nicht als missglückte Maßnahme einiger Italiener zu verstehen, uns hier ein wenig heimisch fühlen zu lassen. Laut Marc gehörte dieses Heim irgendeinem deutschen Sportbund und war gewissermaßen sogar deutsches Staatsgebiet. Aber wie das eben so war: Wenn man der Heimat zu lange fern war, bekam man die Entwicklungen dort irgendwann nicht mehr mit. Schon als Kind hatte mir meine Mutter von den Amischen erzählt, deutschstämmigen Amerikanern, die zweihundert Jahre altes Pfälzisch sprachen und noch mit Pferdekutschen unterwegs waren. Wären sie erst vor zehn Jahren in die USA ausgewandert, sie hätten womöglich ebenso derartige Aufkleber an ihren Eingangstüren hängen gehabt.

Interessanter als die Aufkleber war jedoch das Heim selbst. Es bot genau vier Schlafräume. Einen Ein-Mann-Raum für Herrn Kaiser, einen Zwei-Mann-Raum für Marc und Volker und zwei Dreißig-Mann-Räume für alle, die übrig geblieben waren. Wir staunten wirklich nicht schlecht, als Marc uns dies eröffnete.

«Haha, das werden drei interessante Nächte», sagte ich.

David rieb sich ebenso die Hände.

Dazu hatten wir allen Grund. Bisher waren Acht-Mann-Zimmer das Höchste der Gefühle auf Chorfahrten gewesen. Und in denen war es selten leise zugegangen. Das wusste auch Marc nur zu gut. Vor allem aber kannte er seine Pappenheimer.

«Lennart und David, ihr werdet mir in den nächsten drei Tagen beweisen, dass ihr euch auch normal benehmen könnt. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?»

«Jaja –»

Wir gingen alle gemeinsam in das Obergeschoss und nahmen die beiden Zimmer in Augenschein. Sie boten uns einen Anblick, der uns johlen ließ. Links und rechts standen in Reih und Glied jeweils geschätzte zehn Etagenbetten. Stahlbauweise. Ansonsten gab es noch eine Spindreihe, die den ganzen Raum umschloss. Das einzige, was mich hier nicht an die Kaserne in dem Film Full Metal Jacket denken ließ, war die Uhr, die an der kahlen Wand hing. Sie erinnerte an eine Hinrichtungskammer.

Wir alle waren uns einig: «Das ist ja wohl echt mal voll geil hier!»

Nathanael zückte seinen Fotoapparat.

«Ey, kannst du mich mal fotografieren, wie ich hier vor dem Bett stehe?»

Ich wusste schließlich: Was immer in den kommenden drei Tagen in diesem Raum geschehen würde, in zwei Jahren würden mich die Erinnerungen daran in einen nostalgischen Rausch versetzen. Darüber lachen können würden wir alle vermutlich schon früher. Wir lachten ja eigentlich schon jetzt. Die Vorstellung, dass wir gleich alle gemeinsam in diesem Raum schlafen würden, war einfach zu komisch.

Weniger komisch war, dass die Betten keine Seitenwände hatten. Wer heute Nacht beim wilden Träumen ein paar Zentimeter zu weit rollte, würde in die Tiefe stürzen. Keine sonderlich behagliche Vorstellung. Wir behalfen uns damit, dass wir die Betten zusammenschoben. Bei denen, die ganz an der Seite standen, spannte Marc da, wo die Seitenwand wäre, eine Schnur auf.

«Wenn ihr nachts dagegenrollt, merkt der Körper, dass da ein Widerstand ist und rollt nicht weiter», erklärte er.

Während er so zugange war, fiel mir etwas auf.

«Oh, Marc, hast du schon gesehen, dass ich genau neben der Wand schlafe, die zu deinem Zimmer zeigt?», sagte ich. «Pass bloß auf, dass ich nicht heute Nacht einen ganz schlimmen Albtraum kriege, der mich volle Elle dagegentreten lässt.»

«Nein, nein, nein, das wirst du schön bleiben lassen, mein Lieber», erwiderte Marc, «Diese Wand ist heilig!»

Ich hätte nun entgegnen können, dass es sich sehr gut traf, dass das eine heilige Wand war. In meiner Religion nämlich gehörte es zum Ritus, solcherlei Wänden halbstündlich einen beherzten Tritt zu verpassen. Leider fiel mir diese Antwort erst Tage später ein.

Ich trat nicht gegen die Wand. Auch ansonsten herrschte Mucksmäuschenstille, nachdem das Licht gelöscht worden war. Niemand wollte derjenige sein, der neunundzwanzig Personen am Schlafen gehindert hatte. Und niemand musste sich in Gegenwart von neunundzwanzig Personen mit Lärm von seiner Angst vor der Dunkelheit ablenken. Alle konnten beruhigt einschlafen in dem gemütlichsten Zimmer, in dem wir jemals übernachtet hatten.