Lokale Spezialitäten

Perlen von Holstein Folge 114

Das Kellerkabuff war zum Glück nur eine vorübergehende Bleibe gewesen. Schon einen Tag später brachen wir zu unserem nächsten Ziel auf: ein Örtchen mit Namen Marktoberdorf. Die Reise dorthin würde zwar nicht lange dauern, dennoch fuhren wir früh los. Herr Kaiser hatte heute schließlich noch einiges mit uns vor. So dämmerte es gerade erst, als sich der Bus von KdF-, ähm, KDE-Reisen in Bewegung setzte.

Unser Weg führte uns an einer Reihe anonymer bayerischer Dörfer vorbei. Ihnen allen war gemein, dass die Dächer sämtlicher Häuser, von der Villa bis zur Scheune, mit Solarzellen übersät waren. Einzig die Kirchen waren von ihnen verschont geblieben. Kein Zweifel: Auch in dieser ländlichen Idylle hatte der Fortschritt Einzug gehalten.

Wozu er gut sein sollte, konnte ich nicht sagen. Erst neulich hatte ich es wieder im Physik-Unterricht bestätigt bekommen: Solarzellen waren teuer und produzierten nur wenig Strom. Zudem befanden wir uns hier nicht auf einer Bergspitze, wo die Sonne viel schien. Ein Tal, das von der Sonne über Stunden überhaupt nicht erreicht wurde, durchquerten wir allerdings auch nicht. Vielmehr waren wir in einer Gegend so platt und eben wie Neufriesland. Das konnte nur eines bedeuten: Wir durchquerten das Alpenvorland. Unsere Erdkunde-Lehrerin hatte es uns damals in der sechsten Klasse so schonend wie möglich beibringen wollen: ‹Ich werde euch jetzt etwas sagen, das euch ganz furchtbar enttäuschen und auch traurig machen wird: Das Alpenvorland ist flach!›

Wo genau im Alpenvorland wir uns befanden, hätte uns eigentlich das Navigationssystem verraten. Beide Bildschirme im Fahrgastraum zeigten es. Dummerweise war die Straße, die wir entlangfuhren, nicht eingezeichnet. Dies mochte der eine Grund dafür sein, dass einige Knaben das Heimweh gepackt hatte. Der andere war, dass sie deswegen das von unserem Chorleiter so getaufte Heimweh-Spiel auf seinem Pocket-PC spielen durften. Es war wirklich kaum zu fassen: Herr Kaiser ließ unsere Knaben ein Killerspiel spielen. Um mit seinem Pocket-PC herumprahlen zu können, verriet er selbst seine ehernsten Ideale. Aber nicht mit mir.

«Oh, jetzt kommt Herr Kaiser wieder mit seinem Pocket-PC», sagte ich.

«Das stimmt, Lennart. Hast du was dagegen?», erwiderte unser Chorleiter gut gelaunt.

«Nur, dass Sie den ganzen Tag damit angeben.»

«Ach, ich gebe damit an? Das ist mir neu.»

«Hallo? Bei jeder Einzelstimmbildung: ‹Warte, ich hole mal kurz meinen Pocket-PC raus und schreibe mir den Termin auf.› Oder: ‹Das kann ich kurz mit meinem Pocket-PC im Internet nachsehen.›»

«Ach, und das empfindest du als Angeben, Lennart?»

«Ja, das empfinde ich als Angeben, Herr Kaiser.»

Längst hatten die anderen Männer unseren Disput mitbekommen.

«Das ist auch Angeben», sagte Philipp, «‹Oh, guckt mal hier, mein Pocket-PC.›»

Es dauerte nicht lange, da hagelte es aus allen Richtungen spöttische Kommentare. Bald sangen Max-Frederick, Imanuel, Philipp und ich auf die Melodie von O Tannenbaum: «O Pocket-PC, O Pocket-PC, wie schön sind deine Tasten»

Herr Kaiser nahm es gelassen.

«Ja, wenn ihr alle so begeistert seid von meinem Pocket-PC», sagte er, «müsst ihr euch doch jetzt eigentlich noch einen Namen für ihn ausdenken.»

Das taten wir natürlich gerne. Fortan sollte das Gerät Bernward Bruchhäuser-Meisemann heißen. Wie der Komponist von Schlafe, mein Kindelein, was wir gestern Vormittag zum ersten Mal geprobt hatten.

David und mir war indes ein noch nicht zu Ende ausgetragener Konflikt wieder eingefallen.

«An-n-n-n-n-n-n!»

«Au-u-u-u-u-u-us!»

«An-n-n-n-n-n-n!»

«Au-u-u-u-u-u-us!»

«Leute», sagte Imanuel. Damit erreichte er, dass wir uns nun sogar noch Überzeugungen erdachten, für die wir kämpfen konnten.

«Es wurde geschaffen, um an zu sein, also muss es an sein», sagte ich.

«Und selbst wenn es jetzt an ist: Irgendwann wird es aus sein, so wie alles Licht im Weltraum verloschen sein wird, wenn sämtliche Sterne verglüht sind», entgegnete David.

Marc ließ sich nicht lange bitten.

«Hört ihr jetzt bitte auf damit?»

«Okay, wir hören auf», sagte ich, «und einigen uns darauf, dass die Seite gewonnen hat, die stärker ist –» David grinste. Er wusste, worauf es hinauslief. Marc inzwischen ebenso.

«Ihr hört jetzt auf damit, ja?»

Wir gaben klein bei. Eine Busfahrt, die nur zwei Stunden dauerte, war es nicht wert, sein gesamtes Pulver zu verfeuern.

Unsere neue Unterkunft war die Bayerische Musikakademie Marktoberdorf. Sie hielt, was der hochtrabende Name versprach.

«Geile Zimmer!», rief ich Philipp zu, als er mir auf dem Gang entgegenkam.

Kellerkabuffs für sechs Personen gab es hier nicht. Es gab nicht einmal Etagenbetten. Stattdessen teilten David und ich uns eine geräumige Zwei-Mann-Stube. Jeder von uns hatte ein eigenes Daunenbett mit weißem Kissen, weißer Decke und weißem Laken.

Von alledem würden wir aber zunächst einmal nicht allzu viel haben. Gleich nach dem Mittagessen unternahmen wir einen Ausflug. Es ging zu einem Schloss, das hoch oben auf einem Berg lag. Seine Himmelbetten, Gemälde und sonstiger Zierrat beeindruckten mich kaum. Ebenso die vielen geheimen Gucklöcher und als Stühle getarnten Toiletten. Ich erfuhr erst im Nachhinein, dass es sich nicht um irgendein Schloss, sondern um Neuschwanstein gehandelt hatte. Erschüttert war ich wenig. Ich fühlte mich eher in meiner lange gehegten Annahme bestätigt, dass ich Wahrzeichen nicht langweilig fand, weil sie Wahrzeichen waren. Sie waren einfach langweilig.

Nach der Rückkehr in unsere Unterkunft stieg das Zimmer von David und mir rasch zum zentralen Treffpunkt auf. Max-Frederick, und Imanuel lungerten bei uns herum, ebenso Philipp. Letzterer war kein Mann, sondern seit über einem halben Jahr im Stimmbruch. Wir betrachteten ihn dennoch schon jetzt als einen von uns.

Während wir herumsaßen und uns an der Qualität unserer Unterkunft erfreuten, verschwand David nach draußen. Sichtlich aufgeregt kehrte er einige Minuten später zurück.

«Ey, hat einer von euch ’ne Ahnung, was Frucade ist? Oder Sole?»

«Hm, nö», antwortete ich, «Wieso?»

«Unten im Flur ist ein Getränkeautomat und da gibt es ein Getränk, das heißt Frucade mit reichhaltiger Sole. Und es kann ja sein, dass das was Geiles ist.»

«Steht denn nicht da drunter, was das ist? Oder ist da kein Bild, auf dem man das sehen kann?»

«Naja, da steht Tafelwasser drunter.»

«Ja, dann ist das Selter.»

«Ja, das dachte ich mir auch schon. Aber dann kann das doch nicht Frucade heißen. Wenn das Frucade heißt, muss das doch irgendwas Geiles sein.»

«Kauf’s dir doch einfach und find’s heraus.»

«Ja, nee. Nicht, dass das am Ende doch Selter ist.»

«Ja, dann weiß ich auch nicht.»

«Willst du nicht mit runterkommen und dir das mal angucken? Vielleicht findest du ja heraus, was das ist.»

Mir war der Getränkeautomat auf dem Flur im Erdgeschoss durchaus aufgefallen. Sein Angebot in Augenschein zu nehmen war mir jedoch nicht in Sinn gekommen. Mein Budget hatte gerade einmal ausgereicht, um mir am Bahnhof Hamburg-Dammtor meine Killerspiel-Zeitschrift zu kaufen. Nun ja, natürlich war noch ein wenig Geld übrig, doch das hätte ich mir gut einzuteilen. Ich würde einmal ein ernstes Wort mit meiner Mutter reden müssen. Laut ihr hatte schließlich schon Opa Max gemahnt: ‹Es kann vorkommen, dass die Nachkommen der Vorkommen mit dem Einkommen der Vorkommen nicht auskommen und darum vollkommen verkommen.›

David, Max-Frederick, Philipp, Imanuel und ich begaben uns zu dem Getränkeautomaten. In der Tat: Hier wurde neben Cola, Fanta und Sprite ein Getränk namens Frucade mit reichhaltiger Sole angeboten. Ein kurzer Blick auf die Taste genügte, um zu wissen, um was es sich definitiv handeln musste. Das Frucade-Logo bestand aus blauer Serifenschrift auf weißem Grund, darunter stand in dicken Lettern: ‹Tafelwasser›.

«Also David, ich würde wirklich sagen, dass das Selter ist», sagte ich.

«Ja, aber es heißt Frucade. Das muss doch irgendetwas Geiles sein.»

«Dann kauf’s dir doch einfach.»

«Aber was ist, wenn das wirklich Selter ist?»

«Das ist dann dein Problem.»

David entschied sich, das Getränk nicht zu kaufen. Wir gingen nach oben und unterhielten uns eine halbe Stunde lang über etwas völlig Anderes. Plötzlich sprang David auf.

«Verdammt, ich find’ das jetzt raus!», sagte er.

Er stürmte nach draußen. Wenige Augenblicke später kehrte er zurück, in der Hand eine Flasche. Ihr Glas war so klar war wie ihr Inhalt.

«Das ist Selter», sagte David.

Philipp, Imanuel, Max-Frederick und ich bekamen einen schallenden Lachanfall. David öffnete demonstrativ unbeeindruckt die Flasche und nahm einen kräftigen Schluck. Dann konnte auch er sich nicht mehr halten. Er lachte so heftig, dass er die frisch heruntergeschluckte Frucade auf den Teppichboden beförderte.

Was es nun genau mit der Produktbezeichnung Frucade auf sich hatte, konnte uns unser Chorleiter auch nicht sagen. Den Begriff Sole schlug er aber gerne für uns mit seinem Pocket-PC in der Wikipedia nach. Es dauerte ein wenig, bis die Seite geladen war. Dann aber erfuhren wir die Antwort: ‹Sole aus spätmittelhochdeutsch sul, sol Salzbrühe, ist eine Salz-Wasser-Lösung. Ursprünglich bezeichnete der Ausdruck nur die Kochsalzlösungen, aus denen in Salinen, Salzbergwerken oder am Meer Salz gewonnen wurde. Durch Eindampfen an der Sonne oder Sieden der Sole wird dann Kochsalz gewonnen.› Nein, das war ganz bestimmt nichts Geiles.

Für den Abend hatte der Chor die Kegelbahn der Bayerischen Musikakademie Marktoberdorf gemietet. Drei Mal fragte mich David: «Ey, willst du wirklich nicht mitkommen?» Ich wollte nicht. Ich hatte nicht die geringste Lust, derjenige zu sein, den niemand in seiner Mannschaft haben wollte, weil ich schuld daran sein würde, dass ebendiese Mannschaft verlor. Es genügte mir schon, das zwei Mal in der Woche beim Schulsport durchmachen zu müssen. Beim Völkerball, Brennball, Volleyball, Fußball und vergleichbaren Entwürdigungen.

Mit meiner ablehnenden Haltung stand ich alleine da. David ging mit zum Kegeln, ebenso Philipp, Imanuel und Max-Frederick. Ich blieb im Zimmer zurück und las notgedrungen meine Killerspiel-Zeitschrift, den Gamestar. Zwischendurch blickte ich auf den Reiseplan. In zwei Tagen würden wir schon wieder abreisen. Unser nächstes Ziel wäre dann Mailand. Zwei von vier Stationen hätten wir dann hinter uns gebracht. Die Hälfte der Reise wäre überstanden. Wobei, nein, eigentlich wäre sie es nicht. In Mailand nämlich würden wir nicht zwei Nächte verbringen, sondern drei. Ebenso in Darmstadt, der letzten Etappe. Viel Zeit also würde noch vergehen, ehe ich an meinen Computer zurückkommen würde.