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Perlen von Holstein Folge 113

‹Vierzehn Stunden› war die Antwort auf die wichtigste der Fragen, die nicht gestellt werden durften. Vierzehn Stunden, so lange waren wir unterwegs gewesen. Den überwiegenden Teil dieser vierzehn Stunden hatten wir sitzend zugebracht. Dennoch waren wir alle völlig ausgelaugt. Entsprechend unblutig ging die Zimmerverteilung vonstatten. Nur eine Viertelstunde dauerte es bis David, Imanuel, Max-Frederick, Philipp, Nathanael und ich unser Kellerkabuff betreten konnten.

«Oh, Siff!», sagte Philipp und erntete dafür einige Lacher.

Der Siff jedoch war nicht das Hauptproblem unseres Kellerkabuffs. Das Hauptproblem unseres Kellerkabuffs war, dass es ein Kellerkabuff war. Eng ging es hier zu, sehr, sehr eng. Es zollte schon irgendwie Bewunderung ab, dass man es geschafft hatte, drei Etagenbetten hier hineinzubekommen. Wahrscheinlich jedoch handelte es sich um an Ort und Stelle gezimmerte Maßanfertigungen. Das Bett auf der linken Seite jedenfalls passte haargenau zwischen Boden und Decke und zwischen Außenwand und Säule.

In diesem Ambiente kam uns die in vierzehn Stunden aufgebaute Schläfrigkeit sofort wieder abhanden. David kramte seinen iPod und Computerlautsprecher hervor. Ein Lied der Toten Hosen erklang.

«Unterwegs auf der Straße, die dich nach morgen führt. Im Rückspiegel siehst du all die Jahre hinter dir. Keine Zeit, groß zu bereu’n, niemand gibt dir was zurück. Dreh dich nicht zu lange um, es ist dafür zu spät.»

Ich war davon nur wenig angetan.

«Irgendwie ist das jetzt schon ziemlich nullachtfünfzehn», sagte ich.

Dem konnte sich Nathanael nur anschließen: «Ja, also besonders originell ist das nicht.» Er sprach mit der für ihn so typischen, schnurrig-nasalen Stimme, die jede seiner Äußerungen zu einem Erlebnis machte.

David war jedoch nicht geneigt, sich in seine Musikauswahl hereinreden zu lassen.

«Ey, komm, von der Aussage her ist das geil.»

Ich ließ mich nicht auf eine Diskussion ein, sondern holte stattdessen das Buch hervor, das meine Mutter mir zum Geburtstag geschenkt hatte: Schotts Sammelsurium.

«Ey», sagte ich, «aus Des Teufels Wörterbuch: ‹Hoffnung: Fusion von Gier und Erwartung.› Oder: ‹Geduld: Mindere Spielart der Verzweiflung, maskiert als Tugend› Oder: ‹Geistlicher: Mann, der unsere geistlichen Angelegenheiten verwaltet, um seine weltlichen aufzubessern.›»

Über letzteres musste besonders Nathanael lachen.

«Das ist allerdings meistens wahr.»

Nathanael musste es wissen. Prägnant an ihm waren nämlich nicht nur sein Ziegenbart, die kurzen Hosen, die er zu jeder Jahreszeit trug, und die Flasche River Cola, die er stets mit sich führte. Prägnant waren auch die T-Shirts, die er trug. Auf einem davon war ein Piranha abgebildet, unter dem ‹Hardcore Christian› zu lesen stand. Ein anderes zeigte das Wort ‹Spirit› in Form des Sprite-Logos. Den Platz der Zitrone nahm hierbei eine Taube ein. Unser aller Favorit war jedoch die neueste Erweiterung von Nathanaels Kleiderschrank: Ein T-Shirt, das den Betrachter fragte: ‹Jünger werden?›

Trotz alledem war Nathanael in unserem Zimmer eher ein Fremdkörper. Er war rund zehn Jahre älter als David und ich und hätte somit Anspruch auf ein Einzelzimmer gehabt. Einzelzimmer hatten aber nicht in ausreichender Zahl zur Verfügung gestanden. So waren nur Herr Kaiser, Marc, Volker und Norbert berücksichtigt worden.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Das in Schotts Sammelsurium zitierte Devil’s Dictionary, Des Teufels Wörterbuch von Ambrose Bierce lehrt uns vor allem eines: Der Witz ‹Was ist schlimmer als eine Blockflöte? Zwei Blockflöten› ist – A Älter als wir alle dachten und – B Nicht für die Blockflöte erfunden worden.

Dort findet sich nämlich folgender Eintrag: ‹Klarinette: Ein Folterinstrument, das von einer Person mit Watte in den Ohren bedient wird. Es gibt zwei Instrumente, die schlimmer sind als eine Klarinette – zwei Klarinetten.› Dazu muss gesagt werden, dass Bierce die Einträge seines Devil’s Dictionarys um die Jahrhundertwende erdachte, die Blockflöte aber erst in den 1920er Jahren Einzug in die Musikpädagogik hielt. Es scheint, als habe sie dabei die Rolle anderer Blasinstrumente teilweise übernommen.

Philipp erkannte sofort, welches Buch ich in der Hand hielt.

«Ah, Schotts Sammelsurium. Ja, das ist geil. ‹Merkwürdige Tode einiger burmesischer Könige: Theinko: ermordert von einem Bauern, dessen Gurken er ohne Erlaubnis gegessen hatte. Tabinshweti: geköpft von seinem Kammerherren, als er sich einen imaginären weißen Elefanten suchte. Nandabayin: lachte sich zu Tode, als er von einem reisenden italienischen Kaufmann erfuhr, dass Venedig ein Freistaat ohne König sei.›»

«Haha, naja», sagte ich, «am besten finde ich ja die Liste mit den Phobien. ‹Angst vor dem Schulbesuch: Didaskaleinophobie.› Ich glaube, das schreibe ich irgendwann mal in ’ne Entschuldigung rein: ‹Ich konnte nicht zur Schule kommen, ich hatte einen Anfall von Didaskaleinophobie.›»

Die in vierzehn Stunden aufgebaute Schläfrigkeit war inzwischen zu mir zurückgekehrt. Ich wollte jetzt noch eines: dass irgendwer das Licht ausschaltete. Das tat jedoch niemand. Imanuel, David und Philipp waren in Streitigkeiten bezüglich der Standorte ihres Gerümpels verwickelt. Sie schienen nicht gewillt zu sein, sich so schnell einig zu werden. Ich war inzwischen nicht mehr einfach nur müde, meine Augen brannten.

Ich kam mir vor wie ein kleiner Max-Frederick, als ich schrie: «Ey, Alter, könnt ihr jetzt euren ganzen Scheiß einfach mal dort stehen lassen, wo er ist, und das Licht ausmachen?»

Binnen Sekunden hatten die drei ihren Konflikt beigelegt und das Licht ausgeschaltet. Doch ließ die nächste Auseinandersetzung nicht lange auf sich warten. Imanuel zog den Vorhang vor dem Kellerfenster zu.

«Ey, nee, lass mal auf», sagte David, «Ich brauche nachts einen Bezug zur Außenwelt.»

«Ja», sagte ich, «in so ’nem Verließ wie diesem hier will ich auch lieber, dass ein bisschen Licht reinkommt.»

«Leute, ich kann nicht schlafen, wenn nicht alle Gardinen zu sind. Und wenn ihr schlaft, braucht ihr doch keinen Bezug zur Außenwelt», entgegnete Imanuel.

Gingen die Oberlehrereien also schon wieder los.

«Doch», sagte David, «wenn ich nachts aufwache, will ich gleich wissen, wo ich mich befinde und wie spät es ist.»

«Das kannst du auch auf deinem Wecker sehen», erwiderte Imanuel.

«Nicht, wenn es total dunkel ist», sagte ich.

«Leute!», sagte Imanuel.

Ich stieg aus dem Bett und riss den Vorhang auf.

Am nächsten Tag brachen wir nach Frauenchiemsee auf. In dem dortigen Kloster sollte das erste Konzert dieser Tournee stattfinden. Frauenchiemsee war, anders als der Name vermuten ließ, kein Gewässer, sondern eine Insel. Man gelangte mit einer Fähre dorthin. Um dem nichts abgewinnen zu können, musste man offenbar nicht aus Finkenwerder stammen und mindestens drei Mal die Woche mit der Fähre fahren. Jedenfalls machte Philipp auch keine Anstalten, die Fahrt zu genießen. Wir verzogen uns ins Unterdeck. Hier kamen wir irgendwie auf das Killerspiel Vampires Dawn zu sprechen.

«Wie hieß der Typ noch, den man da spielt? Ich kann mir diese bescheuerten Namen der Leute aus diesem Spiel immer nicht merken», sagte ich.

«Valnar», antwortete Philipp, «Aber ja, die Namen sind schon irgendwie komisch.»

«Wie weit bist du denn überhaupt gekommen?»

«Ach, noch gar nicht so weit. Bei mir ist Valnar gerade erst zum Vampir geworden.»

«Naja, ich sage dir gleich: Am Anfang ist das Spiel derbe geil, auch, weil das so herrlich düster die ganze Zeit ist. Man glaubt echt kaum, dass das möglich ist, sowas mit dem RPG Maker zu machen. Aber irgendwann kommt so ein Punkt, da wird die Geschichte nicht mehr weitererzählt. Da sollst du dann frei die Spielwelt erkunden und musst dann erst mal herausfinden, auf welcher von diesen ganzen Inseln die Gegner nicht so stark sind, dass du nach fünf Sekunden gekillt wirst. Und das ist so nervig, ey. Als das kam, hatte ich ganz schnell überhaupt kein› Bock mehr auf das Spiel.»

«Ach so? Naja, ich werde mal gucken.»

Unser Auftrittsort, die Klosterkirche Frauenchiemsee, war architektonisch schon bemerkenswert. Von außen wirkte sie ärmlich und verfallen. Ihre Fassade war schmucklos und bestand aus verschieden großen, verschiedenfarbigen Steinen. Man hätte das Bauwerk für eine Ruine halten können. Unpassierbare Wege verstärkten diesen Eindruck. Drinnen aber erwartete uns ein Altarraum, dessen Prunk eher zu einer Kathedrale gepasst hätte.

Das Konzert fand guten Zuspruch bei den Frauenchiemseeern und Frauenchiemseeerinnen. Auch die Menschen von außerhalb zeigten sich angetan. Am Fähranleger wurden wir von einem Mann mittleren Alters angesprochen.

«Hach, das war wirklich ein schönes Konzert, was ihr da gegeben hat. Es waren ja sogar viele Stücke dabei, die ich noch gar nicht kannte. Aber bei Locus iste, da war ich kurz davor, mitzusingen. Das haben wir mit unserem Knabenchor früher auch immer gesungen. Es hat natürlich nicht ganz so gut geklungen wie bei euch, aber Spaß gemacht hat es mir immer. Das ist wirklich so tolle Musik.»

So wie er das sagte, hätte man meinen können, Locus iste von Anton Bruckner wäre Standardrepertoire von Knabenchören, vergleichbar mit Altra trinita beata. Das konnte aber unmöglich sein. Dann hätten wir es doch zu Siebenkittel-Zeiten gesungen haben müssen. Das hatten wir aber nicht. Und bevor Herr Kaiser mit dem Stück angekommen war, hatte ich es auch nur einen anderen Knabenchor singen hören: Den Hamburger Knabenchor St. Nikolai. Unsere Erbfeinde hatten das Stück damals bei Sonntakte zum Besten gegeben. Ich hatte mich für es nur wenig begeistern können. Die Sopranlinie des Anfangs hatte mit ihrer einfältigen Selbstzufriedenheit schlimme Erinnerungen an Werke wie Panis Angelicus geweckt. So etwas passte vielleicht zu Frau Pritzkat, aber doch nicht uns.

Mit der Zeit aber hatte ich das Werk zu schätzen gelernt, zumindest den Mittelteil. Da durften wir Bässe endlich einmal tun, was wir am besten konnten: Aus voller Kehle brüllen. Was an den Worten ‹inestimabile sacramentum› genau den Anlass hierfür bot, ich wusste es nicht. Solange ich meinen Spaß haben konnte, war mir das aber herzlich egal. Zudem erhielt der Krach ja auch ein angemessenes Gegengewicht. Kaum, dass er verklungen war, sang der Tenor bedeutungsschwanger, weil kaum zu vernehmen: «irreprehensibilis est, irreprehensibilis est –» Da fühlte man sich irgendwie gleich an einen ganz anderen Ort versetzt. Einen, der, von Lianen überwuchert, mitten im Urwald lag. Bewohnt wurde er von einem Naturvolk, dessen Schamane den ganzen Tag mit geheimnisvollen Gebräuen herumexperimentierte. Das war schon eine etwas merkwürdige Assoziation. In dem Stück ging es schließlich um einen Ort, den der Gott der Christen geschaffen hatte. Naturvölker hatten hier meines Wissens keinen Platz.

Dem Mittelteil schloss sich eine Wiederholung des Anfangs an. Ich empfand ihn noch immer als bieder. Dennoch ging der Spaß jetzt erst richtig los. Der Anfangsteil wurde nämlich nicht eins zu eins wiederholt, mittendrin wurde plötzlich in den Schluss übergeleitet. Die Knaben waren damit irgendwie überfordert. Fast jedes Mal sangen sie wieder ‹a deo – deo factus› statt ‹a deo – deo – de-e-e-e-e-o›. Herr Kaiser war am Verzweifeln, denn natürlich würde es jeder hören, wenn nur einer im Konzert factus sang. Vor allem, wenn derjenige dem Wunsch unseres Chorleiters entsprechend alle Konsonanten überdeutlich aussprach. Mich amüsierte es eher, wenn die Knaben diesem kompositorischen Einfall des Herrn Bruckner mal wieder auf den Leim gingen. Denn natürlich fand Max-Frederick das immer unverzeihlich.

«Mann, ey, Scheiß-Knaben wieder nur am Verkacken, Alter!»

Da nahm man ein wenig einfältige Selbstzufriedenheit doch gerne in Kauf.