Revolution von oben

Perlen von Holstein Folge 109

August 2005

Viele Veränderungen hatte Herr Kaiser in den vergangenen zweieinhalb Jahren angestoßen. Und so deutete inzwischen allenfalls sein jugendliches Alter noch darauf hin, dass er den Chor gar nicht so lange leitete. Es schien aber, dass unser Chorleiter erst ruhen würde, wenn er seinen Neuen Knabenchor Hamburg komplett umgebaut hätte. Die neueste Veränderung betraf das von uns seit jeher wenig geliebte Probenwochenende direkt nach den Sommerferien. Herr Kaiser hatte es im Handstreich abgeschafft. Darüber hätte man sich freuen können, hätte er nicht im gleichen Handstreich etwas ungleich Schlimmeres eingeführt: Die Probenwoche in der letzten Woche der Sommerferien. Die Neuerungen einer Revolution von oben mussten eben irgendeinen Haken haben.

Zumindest im ersten Jahr aber würde die Probenwoche keine Probenwoche, sondern eher Proben-Fünf-Tage sein. Herr Kaiser und die Knaben mussten dann nämlich ganz dringend abreisen, um bei einem Herr-der-Ringe-Festival in Neumünster mitwirken zu können. Diese fünf Tage würden wir auch nicht in Maschen zubringen müssen – sich dies auch nur vorzustellen, zog wohl selbst einem gestandenen Chorleiter ein wenig zu sehr die Schuhe aus. Stattdessen ging es in ein kleines Nest mit Namen Lankau. Es lag weit abgelegen, irgendwo bei Mölln. Dort mit öffentlichen Verkehrsmitteln hingelangen zu wollen, war ein aussichtsloses Unterfangen. Und die Eltern in die Pflicht zu nehmen, ihre Kinder hinzuchauffieren, war ihnen nicht zuzumuten. Es wurde also ein Bus angemietet, mit dem wir alle gemeinsam dorthin fuhren. Wobei: Eigentlich fuhren nur die anderen alle gemeinsam dorthin. Ich hingegen sollte erst später und mit dem Auto nach Lankau gelangen.

In ihrem Bestreben, mich vom heimischen Computerbildschirm wegzubekommen, hatte meine Mutter mich zu einem Computerbildschirm der TU Hamburg-Harburg geschickt. Wie in jedem Sommer wurden dort Programmierkurse für Schüler angeboten. Weil die bis siebzehn Uhr dauerten, der Bus nach Lankau aber um fünfzehn Uhr abfuhr, musste ich hinterhergebracht werden. Mit dieser Aufgabe wurde mein großer Bruder betraut. Der freute sich riesig, konnte er doch so ein wenig Fahrpraxis sammeln. Warum nun meine Mutter ebenfalls mit im Auto sitzen musste, erschloss sich uns beiden nicht so recht. Sie wollte nichts in Lankau und hatte zudem beim Autofahren immer Angst – umso mehr, wenn mein Bruder am Steuer saß.

«Mama, kannst du jetzt mal aufhören, dich immer irgendwo dran festzuhalten, wenn ich Gas gebe? Das macht mich kirre!»

«Ja, wenn wir irgendwo gegenfahren, ist es besser, wenn ich einen sicheren Halt habe.»

«Wenn wir irgendwo gegenfahren, wird es dir nichts nützen, wenn du dich dabei irgendwo dran festhältst. Dafür sind die Kräfte, die dann auf dich wirken, viel zu groß.»

Noch mehr als meine Mutter nervten ihn die anderen Fahrer und deren Autos.

«Oh, FIAT», sagte er, «Fehler in allen Teilen. Fix it again, Tony.»

Ich lachte. So cholerisch mein Bruder zuweilen sein konnte, auf seinen Humor war immer Verlass. Und wenn man nicht die Zielscheibe dieses Humors war, konnte man auch darüber lachen. Beim Radioprogramm allerdings hörte selbst für ihn der Spaß auf.

«Mann, Alter, diese gespielte gute Laune die ganze Zeit und dieses Hahaha-Getue. Wenn das nicht gleich aufhört, schmeiß’ ich das Autoradio aus dem Fenster.»

«Ich frage mich auch immer, was das soll», sagte meine Mutter, «Jeder, den ich kenne, nervt das eigentlich nur total. Die von den Radiosendern checken das aber irgendwie nicht.»

«Boah, und dann spielen die auch noch so eine beschissene Musik. Da wirst du ja echt aggressiv von. Ey, Lennart, hast du nicht ein paar Ärzte-CDs mit?»

Ich fing an, in meinem Rucksack zu wühlen.

«Willst du was Bestimmtes?», fragte ich.

«Nein», erwiderte er, «alles ist besser als der Scheiß.»

Ich drückte ihm meine Raubkopie von Runter mit den Spendierhosen, Unsichtbarer! in die Hand. Er steckte sie in das Abspielgerät. Kaum, dass der erste Ton erklang, begann er, begeistert mitzusingen und auf dem Lenkrad herumzutrommeln.

«Ich schau dich an und du bist unbeschreiblich schön, ich könnte ewig hier sitzen und dich einfach nur anseh’n –»

Ich sang ebenso mit und für einen Augenblick waren wir uns richtig nahe. Ein seltenes Ereignis. Seit Jahren schon hatte im Hause Schuett jeder sein eigenes Zimmer, seinen eigenen Computer, seine eigenen Essenszeiten und: Seine eigenen Sozialkontakte. Einmal hatten mein großer Bruder, mein kleiner Bruder und ich jeweils drei Kumpels geladen gehabt. Fassungslos hatte der von meinem großen Bruder bestellte Döner-Lieferant auf den Schuhberg hinter der Tür gestarrt.

«Tja, das ist hier wie in der Moschee, was?», hatte meine Mutter gesagt.

«Schlimmer!», hatte der Döner-Lieferant erwidert.

Wie abgelegen Lankau lag, wurde mir erst bewusst, als wir von der Autobahn herunterfuhren. Es ging eine einsame Landstraße entlang, die keinen Bürgersteig und keinen Fahrradweg hatte. Sie schien erst weit hinter dem Horizont zu enden.

In mir machte sich jenes Gefühl breit, das sich immer in mir breit machte, wenn ich entlegene Orte bereiste oder auch nur an sie dachte. Das Gefühl, vom Weltgeschehen abgeschnitten zu sein, weil der nächste Internetanschluss mindestens fünf Kilometer von einem entfernt war. Das Gefühl, dass es kein Entrinnen gab, weil der einzige Linienbus im Zwei-Stunden-‹Takt› verkehrte und das auch nur bis sechzehn Uhr. Das Maschen-Gefühl. Es hatte sich jüngst vor einigen Wochen breitgemacht. Ich hatte im Killerspiel GTA: San Andreas von der Metropole Los Santos in das Nest Angel Pine zwangsumsiedeln müssen. Plötzlich hatte ich schon eine Viertelstunde mit dem Auto fahren müssen, wenn ich nur meinen Spielfortschritt speichern wollte.

Mein großer Bruder konnte sich für diesen Teil Deutschlands ebenso nur wenig erwärmen.

«Mann, Alter, wie kann man hier nur freiwillig wohnen? Hier ist ja mal wirklich gar nichts los, ey.»

In Lankau angekommen, begann das große Suchen.

«Ey, müsste so ein Heim in so ’nem Kaff nicht sofort zu sehen sein? Hier ist doch sonst gar nichts», sagte mein Bruder, «Wie ist denn noch mal die Adresse?»

«Vossbergweg 38», sagte meiner Mutter.

«Okay. Also Vossbergweg ist hier, dann müsste das doch eigentlich hier irgendwo sein.»

Mein großer Bruder fuhr langsam die Straße entlang. Dabei blickte er nach links und nach rechts. Es dauerte nicht lange, da verlor er die Beherrschung.

«Guck dir das mal an, an keinem Haus steht, welches es ist! Ham die Dorfspacken hier eigentlich keine Hausnummern oder was? Was machen die, wenn mal der Krankenwagen kommen muss und der Fahrer sich hier nicht auskennt?»

Ich lachte.

«Jemanden, der sich hier nicht auskennt, gibt es hier wahrscheinlich nicht», sagte ich.

«Ja, ich glaub’ auch», sagte mein Bruder, «das ist hier doch sowieso alles das Ergebnis von dreihundert Jahren Inzest.»

Wir fuhren weiter den Vossbergweg entlang. Links und rechts war kein Haus zu sehen, das Ortschild hatten wir auch schon passiert. Den Schildern zufolge war der Vossbergweg aber noch nicht zu Ende.

Wir gelangten auf einen Sandweg, der bergauf, bergab durch das Dickicht des Waldes führte. Er war als Landstraße deklariert. Mein Bruder trat aufs Gaspedel.

«Boah, ist das geil», rief er.

Ich lachte.

«Henning!», schrie meine Mutter.

«Ey, komm, hier ist doch nichts», sagte mein Bruder, «Das ist doch nur eine Landstraße.»

«Ja, und auf Landstraßen passieren die meisten Unfälle.»

Plötzlich meinte ich, hinter den Baumwipfeln etwas auszumachen.

«Halt mal kurz an», sagte ich.

Tatsächlich. Hinter Büschen und Bäumen befand sich eine Wiese, auf der ein Gebäude stand. Es war zu groß und architektonisch zu zweckmäßig, um irgendetwas anders zu sein als das Schullandheim Haus Lankau. Mein Bruder und ich stiegen aus. Er ging zum Kofferraum, holte meinen Rollkoffer heraus und drückte ihn mir in die Hand. Dann gingen wir gemeinsam auf das Haus zu. Aus einer offenen Verandatür kam Imanuel heraus.

«Hallo», sagte er.

«Moin», erwiderte mein großer Bruder. Dann sagte er an mich gerichtet: «Also, ist es das hier nun?»

«Jo», sagte ich.

Das war alles, was mein Bruder wissen wollte. Er drehte sich um und ging. Wenige Augenblicke später hörte ich, wie er den Motor anließ und davonfuhr.

Das Maschen-Gefühl setzte nun erst so richtig ein.