Wir lustigen Musikanten

Perlen von Holstein Folge 106

Juni 2005

Mit leisem Missmut trat ich sie an, meine erste Chorreise als Bass. Wir fuhren für ein Wochenende nach Schwerin. Neun Jahre war es hier, dass ich das letzte Mal dort gewesen war. Ich hatte die Stadt durchaus positiv in Erinnerung behalten. Hauptsächlich dafür verantwortlich war die Straßenbahn gewesen. Noch Wochen später hatte ich die elektronischen Stationsansagen imitiert. Straßenbahnen nämlich waren etwas, das es in Hamburg seit Jahrzehnten nicht mehr gab. Entsprechend beeindruckt war ich gewesen. Doch war dies geschehen, als ich noch nicht einmal gewusst hatte, was Internet eigentlich war. Jenes gab es zwar sicherlich auch in Schwerin, doch bestimmt nicht dort, wo wir uns aufhalten würden. Dementsprechend ernst gemeint waren meine Worte, als unser Reisebus Hamburg in Richtung Autobahn verließ:

«Sagt der Zivilisation auf Wiedersehen, Kinder!»

Philipp, mein Sitznachbar, kicherte. Er kicherte überhaupt über alle meine Bemerkungen, gleich welcher Qualität sie auch waren. Eine gute Sache, die die Zeit wie im Fluge vergehen ließ. Bald waren wir bei unserer Schweriner Unterkunft angekommen.

«Und denkt dran: Eine Jugendherberge ist kein Fünf-Sterne-Hotel», sagte Marc durch die Sprechanlage.

«Mit anderen Worten: Siffladen!», rief ich.

Darüber lachte nicht nur Philipp, sondern auch etliche andere. Es war ja nun weiß Gott nicht unsere erste Chorreise. Zudem sollte ich recht behalten. Das stand schon fest, kaum dass wir unser Zimmer betreten hatten. Der Boden war voller festgetretener Krümel, die Fensterscheiben mit einer nicht näher bestimmbaren Schicht bedeckt und die Wände mit braunen Flecken übersät.

‹Hier sieht’s ja aus wie bei Lennart unterm Computertisch›, hätte ein Klassenkamerad dazu wohl gesagt.

«Das ist ja wirklich voll der Siffladen», sagte Philipp.

Max-Frederick ließ seine hämische Hyänenlache erschallen.

«Boah, guck dir mal die Wände an», sagte er, «Diese Flecken sehen ja voll aus wie getrocknete Scheiße.»

«Haha», sagte ich, «bestimmt stammen die von Vieregge. Der ist hergekommen, hat seinen Zopf in einen Eimer mit Scheiße getaucht und dann mit ihm hier rumgewedelt.»

Philipp lachte so heftig, dass er beinahe mit dem Fuß seinen zentnerschweren Koffer umstieß. Vieregge war wohlgemerkt schon mindestens seit dem Weggang von Frau Siebenkittel nicht mehr im Chor. Sein Zopf aber hatte ihn unsterblich genug gemacht, um auch jetzt noch Anlass für Witze zu bieten.

Ich hingegen schien mich mit der Wortschöpfung Siffladen unsterblich gemacht zu haben. Siff avancierte zum Modewort.

«Siff, Siff, Siff, überall Siff», sagte Philipp, «Ey, guck dir mal den Boden an, sowas von siffig. Und was sind das eigentlich für Siffbetten und Siffstühle?»

«Haha, das Wort Siff ist für diesen Raum erfunden worden.»

Philipps erneut schallendes Gelächter wurde von Marc gestört, der plötzlich hereinkam. Er schien gar nicht zu begreifen, worüber wir uns gerade so angeregt unterhielten.

«Wisst ihr eigentlich, wie dankbar ihr mir sein könnt?», sagte er, «Ich habe extra für euch dieses Zimmer – das größte Zimmer des Hauses – freigehalten, weil ich wusste, dass ihr alle zusammen sein wollt.»

«Tja», erwiderte ich.

Das größte Zimmer des Hauses war für acht Personen ausgelegt, wobei ausgelegt tatsächlich einmal sogar mit geeignet gleichzusetzen war. Es bot so viel Platz, dass wir unser Gepäck nicht neben oder unter den Betten verstauen mussten. Wir konnten die Koffer einfach irgendwo in der Raummitte liegen lassen. Ein seltener Luxus.

So gesehen konnten wir Marc tatsächlich dankbar sein. Vor allem, weil wir in kleinerem Kreise vermutlich längst nicht so viel Spaß gehabt hätten. Wie lustig es doch war, sich künstlich über etwas aufzuregen. Und wie lustig es erst wurde, wenn andere einen darin zu überbieten suchten. Philipp war fest entschlossen. So war der Siff noch bis in den späten Abend Dauerthema. Er wurde erst abgelöst, als wir uns allmählich doch schlafen legen mussten. Nun ließen wir uns über die Betten aus.

«Scheiß-Bett», sagte ich, «Scheiß! Bett! ich könnte mich den ganzen Tag über dieses Scheiß-Bett aufregen und die ganze Nacht weiter, denn schlafen kann ich darauf nicht.»

«Haha», erwiderte Philipp, «die Siffmatratzen sind aber auch mal sowas von steinhart. Und diese Siffkissen, ey: so klein, dass du aufpassen musst, dass du dich drauflegst und nicht daneben, haha.»

«Ja», sagte ich, «die Matratze fühlt sich an wie eine Betonplatte, die man mit Schaumstoff überzogen hat. Aber am geilsten ist, dass die Betten so übertrieben klein sind, ey. Wenn ich mich ausstrecke, klemm’ ich zwischen den beiden Bettenden fest, Alter. Weißt du, woran mich das erinnert?»

«Nee, sag mal.»

«An unsere Skireise in der achten Klasse. Da stand an der Wand: ‹Wer hier in diesem Scheiß-Haus, in diesen engen Zimmern, auf diesen verseuchten Matratzen überleben kann, der muss echt taff sein! So ein Scheiß-Haus!› Und dann dahinter: ‹Stimmt. Stimmt. Stimt.› Also ‹Stimt› war wirklich nur mit einem M geschrieben, hahaha.»

«Hahaha, ‹Stimt›, hahaha.»

Von Schwerin sahen wir am nächsten Tag nicht viel. Den ganzen Vormittag saßen wir in der Jugendherberge und probten. Erst danach fuhren wir in die Stadt. Wir fuhren ungewöhnlich lange. Mehr als eine Stunde waren wir unterwegs, die meiste Zeit verbrachten wir auf Landstraßen. Sie wurden von ausgedehnten Monokulturen gesäumt. Ich fand das schon etwas sonderbar. Auf dem Chorplan hatte in meiner Erinnerung ausdrücklich gestanden, dass wir in der Jugendherberge Schwerin überachten würden.

Mein Sitznachbar war Max-Frederick. Er holte seinen MP3-Player hervor und lud mich zum Mithören ein. Einmal mehr standen Die Ärzte auf dem Programm. Anders als bei der Nachtwanderung in Maschen aber stand Max-Frederick der Sinn nach ernsten Themen. Er wählte den Schunder-Song. Wir sangen ihn aus voller Kehle mit.

«Mitten in die Fresse-e-e-e! Fresse-e-e-e! Mitten in die Fresse-e-e-e!»

In Schwerin angekommen, gingen wir zu einer Pizzeria. Den Weg dorthin legten wir alle gemeinsam zurück. Max-Frederick und ich gingen nebeneinander. Außerdem leistete Laurence einmal mehr ungebetene Gesellschaft. Ich kniff ihm in die rechte Pausbacke, Max-Frederick in die linke. Sofort scharrte sich eine Horde Knaben um uns.

«Lasst Laurence in Ruhe.»

«Halt die Fresse, Junge, sonst gibt das hier gleich Tote», sagte Max-Frederick.

«Erst lasst ihr Laurence in Ruhe.»

«Boah, ey, Scheiß-Knaben.»

Zwergo schritt ein.

«Lasst mal gut sein, ihr beiden», sagte er.

Wir ließen von Laurence ab.

Die Pizzeria war entweder nicht vorab informiert worden oder auf solch einen großen Ansturm schlicht nicht vorbereitet. Jedenfalls sollten wir eine Menge Zeit in ihr verbringen. Ich gehörte zu den Glücklichen wenigen, die ihre Pizza innerhalb der ersten halben Stunde bekamen. Philipp bekam als letzter. Nach eigener Messung sollte er zwei Stunden und siebenunddreißig Minuten gewartet haben.

Welche Auswirkung das auf die Stimmung hatte, war abzusehen. Die einen waren wütend, weil sie nacheinander allen anderen beim Essen zusehen durften. Die anderen waren längst fertig und hatten keine Lust mehr, hier herumzusitzen. Man gestattete uns deshalb schließlich, nach draußen zu gehen.

Einige Meter von der Pizzeria entfernt war eine Katze auf der Pirsch. Als sie uns sah, setzte sie sich auf eine Treppe vor einem Hauseingang. Max-Frederick gesellte sich zu ihr. Sie fing an, drohende Miaulaute von sich zu geben. Das beeindruckte Max-Frederick wenig. Er streichelte sie. Davon wenig begeistert, formte sie ihren Rücken zu einem Buckel und streckte den Schwanz nach oben.

Es war Jahre her, dass wir uns im Sachkundeunterricht mit Katzen beschäftigt hatten. Ich erinnerte mich aber sehr wohl noch daran, was wir gelernt hatten: Ein Buckel und ein nach oben gestreckter Schwanz waren keine guten Zeichen.

«Ähm, Max-Frederick», sagte ich, «Ich würde sie jetzt mal besser in Ruhe lassen.»

«Ey, nee, Mann. Die Katze ist cool, haha», erwiderte er.

Er streichelte sie erneut. Jedoch nicht sanft und liebevoll, sondern mit voller Kraft. Das Tier fauchte und fuhr die Krallen aus. Ich machte, dass ich einige Meter von ihm wegkam.

«Was hast du denn, Mann? Die macht doch gar nichts», sagte Max-Frederick.

Als hätte sie seine Worte verstanden, entschied sich die Katze für die Flucht. Sie machte einen gewaltigen Satz und rannte davon. Max-Frederick quittierte es mit hämischer Hyänenlache.

Von der Pizzeria ging es direkt zu unserem hiesigen Auftrittsort, der Paulskirche Schwerin. Das Konzert war, gelinde gesagt, schwach besucht. Auf die Zahl genau acht Leute hatten sich auf den Kirchenbänken eingefunden. Damit wären es sogar dann noch mehr Mitwirkende als Zuhörer gewesen, wenn außer der ersten Knabenreihe alle Sänger aufgrund akuter Magen-Darm-Beschwerden ausgefallen wären. Von tatsächlicher Konzertatmosphäre konnte somit natürlich nicht die Rede sein.

Entsprechend wenig motiviert war ich, in den Sitzpausen Wert auf die Optik zu legen. Ich kauerte mich in der Weise auf der Podeststufe hin, die Frau Siebenkittel einst als Klositzhaltung bezeichnet hatte. David und Max-Frederick verfuhren ähnlich. Niemand sah darin einen Anlass zur Kritik. Marc lobte lediglich Imanuel dafür, wie kerzengrade er die ganze Zeit gesessen hatte.

Auf dem Rückweg zur Jugendherberge wollte Morle etwas loswerden.

«Ey, wisst ihr worauf ich mal wieder richtig Bock hätte? Auf Vi’huda Le’olam Teshev

«Ach, Gott», sagte Max-Frederick, «haben wir das vor Israel nicht immer gesungen?»

«Ja», erwiderte Morle, «aber ihr kennt das doch bestimmt alle noch auswendig.»

«Klar.»

Vi’huda Le’olam Teshev war eine israelische Volksweise, die gegenüber Hevenu Shalom Aleichem einen entscheidenden Vorteil hatte: Sie war nicht einfach nur noch alt und abgestanden. Ich hatte sie als Kind immer gerne gesungen. In meinen Ohren hatte sie damals immer so wunderbar traurig geklungen. Mittlerweile hätte ich sie eher als einen Schmachtfetzen bezeichnet. Als ein Lagerfeuer-Liedchen, das ob seiner zum Prinzip erhobenen Sentimentalität niemand so recht ernst nahm.

Und genau deshalb hatte ich jetzt auch so richtig Lust, es mal wieder zu singen.

Wir grölten los. Natürlich klappte es nicht perfekt. Einige kannten den Text allenfalls noch fragmentarisch, andere hatten vergessen, dass beim dritten Durchlauf alles einen Halbton höher gesungen wurde. Doch das machte nichts. Morle war trotzdem in Feierlaune.

«Geil, Leute! Und jetzt Irish Blessing

Irish Blessing beherrschten wir wesentlich besser. Es war schließlich – so schwer das zu glauben war – gerade einmal zwei Jahre her, dass wir es das letzte Mal gesungen hatten. Für viele von uns fiel es in den letzten Monate der eigenen Knabenzeit. Und genau das war das Problem.

«Ey, sagt mal», sagte Morle, «kann es wirklich sein, dass keiner von euch bei ‹May God hold you› einfach nur den ersten Sopran gesungen hat? Hattet ihr da alle ein Solo oder sonst irgendeine Extranummer?»

Es war wohl so.

Die Knaben hatten mittlerweile mitbekommen, was in den hinteren Reihen des Busses vor sich ging. Weil sie nicht mitsingen konnten, versuchten sie es mit einem Gegenprogramm.

«Lampenfieber heißt die Angst, bevor das Licht angeht und man ganz allein und klein auf der Bühne steht.»

Ein Stück aus ihrer Vorchorzeit. Wir alle kannten es von NDR Sonntakte, wo der Vorchor Drei es gesungen hatte. Statt ihnen jedoch den Gefallen zu tun, mit einzustimmen, hielten wir dagegen. Mit den Gruftchören aus Unser Leben ist ein Schatten.

«Ich weiß wohl das unser Leben oft nur als ein Nebel ist –»

Dagegen kamen die Knaben nicht an. Wir sangen einfach viel zu laut.

Da war er wieder, der nostalgischer Rausch, den sonst nur seit zwei Jahren nicht gespielte Killerspiele zu erzeugen vermochten. Zum ersten Mal, seitdem ich vor Reiseantritt den Computer ausgeschaltet hatte, fühlte ich mich selig. Es war immer wieder schön zu erfahren: Mit meiner Vergangenheitssehnsucht stand ich nicht alleine da. Erst jüngst hatte ich festgestellt: Meine Klassenkameraden, ja, sogar mein großer Bruder teilte sie. Neulich hatte in seinem Zimmer eine Party mit den Titelliedern von Pokémon, Kickers und Eine fröhliche Familie stattgefunden. Es war das erste und wahrscheinlich letzte Mal gewesen, dass ich mitgefeiert hatte.

Auch heute konnte ich Morle wirklich nur zustimmen, als er abschließend feststellte:

«Danke, Leute! Jetzt weiß ich, was uns all die Jahre gefehlt hat.»