Klangwelten

Perlen von Holstein Folge 104

April 2005

Ich hatte eigentlich gedacht, dass es noch etwas dauern würde, bis ich wieder nach Maschen fahren müsste. Doch Herr Kaiser hatte das Frühjahrschorwochenende wiederbelebt. Es begann am 1. April. Ein Datum, bei dem ich mir nicht viel dachte. Der Termin stand immerhin seit Jahr und Tag fest und war damit ganz gewiss kein Aprilscherz. Unser Chorleiter hingegen hätte mal besser etwas genauer auf den Kalender geachtet, als er heute Nachmittag die Nachrichten auf seinem Handy gelesen hatte.

«Wisst ihr», erzählte er, «da schickt mir doch tatsächlich ein Knabe eine SMS, dass er mit schwerer Grippe im Bett liegt und nicht nach Maschen kommen kann. Ich habe natürlich gedacht: ‹Oh Gott, hoffentlich ist er bald wieder fit› und die zweite SMS, die fünf Minuten später kam, gar nicht gelesen. Und dann komme ich nach Maschen und wisst ihr, wer mir als erstes über den Weg läuft, putzmunter? Ja und es stellte sich heraus: Die Sache mit der Grippe war natürlich nur ein Aprilscherz gewesen, was auch in der zweiten SMS gestanden hat.»

Wir alle lachten, besonders Marc. Wir wussten: Natürlich war Herr Kaiser auf diesen Aprilscherz hereingefallen. Krankheiten waren für einen Chorleiter schließlich etwas ganz Furchtbares. Sie begründeten ohne Wenn und Aber, dass jemand nicht zur Probe kommen konnte. Herr Kaiser war ihnen also hilflos ausgesetzt. Schlimmer waren für ihn nach eigenem Bekunden eigentlich nur Schulveranstaltungen. Diese waren in vielen Fällen kein Grund für irgendjemanden, die Probe ausfallen zu lassen. Leider sahen die Lehrer das anders und weil das Recht auf ihrer Seite stand, war ihnen mit Vernunft nicht beizukommen.

Ich lernte in Maschen ein neues Stück kennen: Jesus und die Tochter des Jairus von Gustav Gunsenheimer. Es zu proben war ziemlich anstrengend, denn die anderen kannten es bereits vom letzten Jahr. Dementsprechend sangen sie es einfach drauflos. Ich konnte nur machen, dass ich hinterherkam. Das war besonders schwierig bei der Stelle mit den Worten «und sie verlachten ihn». Hier sollten wir offenbar beim Singen Gelächter nachahmen. Gelächter von der Art Max-Fredericks. Dementsprechend hatten wir eine Tonfolge zu singen, die reichlich rasant war. Sie konnte es mühelos mit dem Anfang von Unser Leben ist ein Schatten aufnehmen. War sie überstanden, war noch lange nicht Schluss. Nun kam «Er aber trieb sie alle hinaus». Das kam zwar mit einer weit weniger abenteuerlichen Tonfolge aus, die aber nichtsdestoweniger schnell war. Wobei, schnell war das falsche Wort. Treibend traf es besser. Die Töne taten gewissermaßen das, was der Text erzählte.

Ich fand das irgendwie faszinierend.

Und es war nicht die einzige Stelle, über die sich das sagen ließ. Am Anfang etwa bei «und fiel vor ihm nieder» musste der Sopran eine Abwärtsbewegung singen.

Man fand den Text durchaus aber auch auf andere Weise in den Noten wieder. So machten wir nach «und siehe» eine kleine Pause. Ganz so, als würden wir das wirklich sagen: ‹Siehe!› Gleiches taten wir Männer nach ‹Herr› in den Worten des Jairus, die wir ohne die Knaben zu singen hatten: «Herr, meine Tochter liegt in den letzten Zügen. Komm und lege deine Hand auf sie, dass sie gesund werde und lebe.» Ich mochte die Stelle. Sie klang so schön arabisch und – weil wir Männer alleine sangen – dunkel. Eben ganz so, als würden wir wirklich flehen und nicht nur darüber berichten, dass jemand es getan hatte.

Am Sonnabendabend brachen wir auf zur obligatorischen Nachtwanderung. Sie war auf Chorwochenenden in Maschen eine Institution, um nicht zu sagen: ein Ritual. Jedes Mal liefen wir die gleiche Route ab. Jedes Mal sagte an der gleichen Stelle irgendjemand: «Wir haben uns verlaufen.» Jedes Mal fanden wir auf dem gleichen Weg doch noch zum Heim zurück. Zu Siebenkittel-Zeiten hatten wir auf den letzten Metern dabei meist zusammen Der Mond ist aufgegangen gesungen. Das taten wir nicht mehr, seit Herr Kaiser das Ruder übernommen hatte. Ansonsten war tatsächlich alles unverändert geblieben. Die Nachtwanderung in Maschen war somit gewissermaßen ein Anker in unser aller Leben.

Ich ging wie üblich mit, um auf dem Weg durch den Maschener Wald die Gedanken ein wenig kreisen zu lassen. Nach vierundzwanzig Stunden des ununterbrochenen Daseins in menschlicher Gesellschaft war mir das ein Bedürfnis. Heute jedoch sollte ich es nicht befriedigen können. Neben mir liefen Max-Frederick und Frans.

«Ey, Lennart», sagte Max-Frederick, «du kennst doch Schlaflied von den Ärzten, oder?»

«Klar», erwiderte ich.

Und schon stimmten wir drei ein: «Schlaf, mein Kleines, träume süß – bald bist du im Paradies. Denn gleich öffnet sich die Tür, und ein Monster kommt zu di-ir. Mit seinen elf Augen schaut es dich an und schleicht sich an dein Bettchen ran. Buh!»

Das machte uns so viel Spaß, dass wir gleich noch ein Ärzte-Lied sangen: «Gib Gas, lieber Michael Schumacher! Gib Gas, lieber Michael Schumacher! Fährst du immer im Kreis. Brumm, brumm, brumm, brumm. Da wird der Motor ganz heiß. Brumm, brumm, brumm, brumm.»

Es war an der Zeit, das Niveau ein wenig zu senken.

«Gestern Nacht ist meine Freundin explodiert, ich hatte nicht damit gerechnet, darum bin ich blutverschmiert. Wer konnte ahnen, dass sie so reagiert? Gestern Nacht ist meine Freundin explodiert.»

«Könnt ihr jetzt bitte etwas anderes singen?», stöhnte Herr Kaiser.

Diesem Wunsch kamen wir natürlich gerne nach. Und sangen Lieder von den Doofen. Jedoch begegnete unser Chorleiter auch diesen mit Missfallen.

«Eis am Stiel, nackt am Strand. Ja, da hat man imposant. Hose runter, tralala. Ja, das ist FKK!»

«Was ihr nicht alles für Lieder kennt.»

«Tuff, tuff, tuff, wir fahren in den Puff. Tuff, tuff, tuff, wir fahren in den Puff. Wir fahren jetzt nach Wuppertal, und gehen in ein Bumslokal. Zuvor jedoch nach Bielefeld, da ham’ wir nämlich vorbestellt.»

«Meine Güte, wer denkt sich denn sowas aus?»

«Ich bau dir ein Haus aus Schweinskopfsülze, da bringt mich nichts von ab. Und wenn du dich nicht freuen tust, gibt’s Haue nicht zu knapp.»

«Was die sich alles einfallen lassen, damit sich das reimt.»

Worte, die uns nur noch weiter anspornten. Dabei hätten wir eigentlich Mitleid haben müssen mit dem Mann, der unseren Chor jetzt leitete. Er erlebte hier wohl gerade den Kulturschock seines Lebens. Immerhin: Über das letzte Lied des Abends konnte auch er lachen.

«Jesus war ein Wandersmann, am liebsten uff’m Ozean. Ja und seine Zaubershow, die hatte wirklich Weltniveau. Ja, aus Wasser, da machte er Wein, wer will da nicht sein Kumpel sein?»

Warum er lachte, verstand wohl nur ich. Der Grund war wohl der Ausdruck Weltniveau. Meine Mutter hatte neulich erklärt, in der DDR seien Waren mit diesem Wort angepriesen worden. Es erübrigte sich zu erwähnen, dass in der Bevölkerung rasch das Gegenteil gemeint gewesen war, wenn jemand von Weltniveau gesprochen hatte.

In der Probe am nächsten Morgen musste Herr Kaiser ein Lob aussprechen.

«Ja, ich wollte noch einmal sagen, wie toll ich es fand, dass gestern Abend einige Knaben freiwillig weitergeprobt haben.»

«Wir Männer haben sogar bei der Nachtwanderung freiwillig weitergeprobt», sagte ich.

«Ja, ja, ja», sagte Herr Kaiser, «ihr habt von eurer Freundin gesungen. Die explodiert ist.»

Das hätte er besser nicht gesagt. Schon ging es nämlich wieder los. Dieses Mal sangen aber nicht nur Max-Frederick, Frans und ich, sondern auch Zwergo, Morle und David.

«Ich wollt’ sie grade küssen, da gab es einen Knall. Grad eben lag sie neben mir, jetzt liegt sie überall – im Raum verteilt. Gestern Nacht ist meine Freundin explodiert, zum Glück trug ich ’nen Integralhelm, darum ist mir nichts passiert –»

Der Mann, der unseren Chor jetzt leitete, trug’s mit Fassung.