Erbfeindschaft

Perlen von Holstein Folge 101

Februar 2005

So rau sein Regiment in den Proben auch geworden war: In der Einzelstimmbildung hatte Herr Kaiser sein Höchstmaß an Höflichkeit bewahrt. Ohne Vorwürfe oder Spitzfindigkeiten trug er mir sein Feedback für meine ersten Wochen im Männerchor vor.

«Ja, Lennart, also ich muss doch sagen: Du lernst Stücke nicht mehr ganz so schnell auswendig wie früher.»

Dem war nichts hinzufügen. Auch mir war bereits aufgefallen, dass ich bei neuen Stücken nicht mehr nach drei Wochen ohne Noten auskam. Mein elefantöses Gedächtnis war wohlgemerkt eines der wenigen Dinge, für die ich selbst von den schlimmsten Klassenkameraden früher oder später Bewunderung erfahren hatte. Dementsprechend konnte ich diese Entwicklung selbst nicht gut heißen.

«Naja, ich bin halt nach einem Jahr Pause ein bisschen aus der Übung», sagte ich.

«Ja, ich glaub’ auch, dass das demnächst wieder schneller gehen wird. Also mach dir nichts draus», erwiderte Herr Kaiser. Dann kam er auf ein, in seinen Augen, wesentlich heikleres Thema zu sprechen: «Ja, also Lennart, wie du weißt, haben wir nächste Woche einen Auftritt beim NDR. Das heißt, du hast deinen ersten Auftritt als Mann. Das heißt, du wirst zum ersten Mal im Anzug auftreten müssen. Möchtest du immer noch aus dem Chor austreten?»

Einen Augenblick lang stand ich da und wusste nicht, was ich sagen sollte. Ganz offensichtlich war diese Frage ernst gemeint. Der Mann, der unseren Chor jetzt leitete, hatte es tatsächlich noch immer nicht verstanden: Meine Ankündigung, aus dem Chor auszutreten, sobald ich einen Anzug tragen müsse, war nichts weiter als ein Witz gewesen. Einer, den selbst ich mit meinem elefantösen Gedächtnis längst vergessen hätte, wenn Herr Kaiser ihr mir nicht ständig in Erinnerung rufen würde.

«Ja, also», sagte ich, «ich werde an diesem Wochenende mal sehen, wie ich mit dem Anzug klarkomme.»

«Schön», erwiderte Herr Kaiser. Er schien sichtlich erleichtert zu sein.

Der Anzug war natürlich auch für meine Mutter jüngst ein Thema gewesen. Zu meiner großen Überraschung jedoch keines, mit dem sie mich unnötig lange von der Beschäftigung mit meinen Killerspielen abhalten wollte. Statt mich zu irgendeinem Herrenausstatter zu schleifen, hatte sie selbst zum Maßband gegriffen. Die Ergebnisse hatte sie in das Formular eingetragen, das dem Otto-Katalog beigelegen hatte. Eine Woche später war mein Anzug gekommen. Er bestand zu hundert Prozent aus Plastik. Außerdem war er mir zu lang. Meine Mutter hatte bei den Maßen einige Zentimeter dazu addiert. Schließlich würde ich noch wachsen.

Es war meiner Mutter durchaus bewusst, dass es mich schon ein wenig Überwindung kosten würde, im Anzug aufzutreten. Sie sah jedoch weniger darin ein Problem als vielmehr in dem Auftritt selbst.

«Weißt du», sagte sie, «beim NDR werdet ja nicht nur ihr auftreten, sondern unter anderem auch der alte Knabenchor. Und ich glaube, dass die euch an die Wand singen werden. Was die Pritzkat macht, also deren Leiterin, ist nämlich viel mehr wie das, was Frau Siebenkittel mit euch gemacht hat. Da wird Herr Kaiser mit seinem Innsbruck, ich muss dich lassen wohl nicht gegenankommen.»

Ich hatte schon immer gewusst, dass es neben unserem Neuen Knabenchor natürlich auch einen alten gab, den Hamburger Knabenchor St. Nikolai. Am U-Bahnhof Kellinghusenstraße hatte alle Jahre wieder ein Rekrutierungsplakat von ihnen gehangen. ‹Wer möchte mitsingen?›, hatte darauf gestanden, umrahmt von Knaben, die wie die unsrigen rote Pullover trugen. Wir hatten natürlich hin und wieder abfällige Bemerkungen darüber gemacht. Abfällige Bemerkungen machten wir über alle anderen Chöre. Als Rivalen oder gar Feinde hatten wir den Hamburger Knabenchor St. Nikolai jedoch nie betrachtet. Wir waren schließlich zu jung, um sie miterlebt zu haben: die Auseinandersetzungen, die einst zum Weggang von Frau Siebenkittel und etlichen Sängern vom alten Knabenchor geführt hatten. Und begegnet waren wir unserem Mutterchor auch nie. Bis jetzt.

Es wurmte mich schon ein wenig, was meine Mutter da sagte. Uns sang doch niemand an die Wand. Und was zum Geier hatte sie eigentlich gegen Innsbruck, ich muss dich lassen?

Mir war klar, was die Situation verlangte: Ich musste es diesem Hamburger Knabenchor St. Nikolai gehörig zeigen. Wir mussten es diesem Hamburger Knabenchor St. Nikolai gehörig zeigen.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Jeder Knabenchor, der etwas auf sich hält, hat einen anderen Chor, den er hasst. Die Regensburger Domspatzen hassen den Windsbacher Knabenchor. Der Dresdner Kreuzchor hasst den Thomanerchor Leipzig. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass der Kreuzchor in der Eisenachstraße residiert. Diese ist nach dem Geburtsort Johann Sebastian Bachs benannt, der siebenundzwanzig Jahre lang den Thomanerchor geleitet hat. Doch was sollen die Kruzianer machen? In eine Straße, die nach Köstritz heißt, können sie auch nicht ziehen. Der dort geborene Heinrich Schütz hat nämlich nicht sie, sondern die Dresdner Kapellknaben dirigiert. Jene hat er übrigens mangels eigenen Sängermaterials aus ehemaligen Thomanern zusammenrekrutiert. Oder, um es in den Worten eines ehemaligen Kruzianers auszudrücken: «Die Seuche hat sich ausgeweitet.»

Unser letzter Auftritt beim NDR lag drei Jahre zurück. Meine Erinnerungen an ihn waren vage. Ich wusste dementsprechend auch nicht mehr, in welchem der zahllosen rechteckigen Gebäude sich das Rolf-Liebermann-Studio befand. Deshalb durchstreifte gemeinsam mit einer Gruppe fremder Knabenmütter das Gelände der Rundfunkanstalt. Ich redete mit ihnen über das Wetter und dachte gar nicht daran, dass sie möglicherweise zu einem anderen Chor gehörten.

Das sollte ich alsbald bitter bereuen. Kaum waren wir nämlich am Hintereingang des Rolf-Liebermann-Studios angelangt, kannten die drei Grazien mich auf einmal nicht mehr. Ohne mich noch eines weiteren Blickes zu würdigen, stürzten sie sich auf eine Mutter, die hinter der Tür stand.

«Ach, sind Sie nicht auch vom Knabenchor St. Nikolai

«Ja.»

«Oh, das ist ja schön, dass wir uns gleich gefunden haben.»

Unwillkürlich verdrehte ich die Augen. Diese Damen waren nämlich nicht einfach nur unverschämt. Sie waren auf eine Art und Weise weltfremd, die nur eines heißen konnte: Sie stammten aus der Oberschicht. Ich konnte sie mir richtig vorstellen, wie sie kokett auf irgendeinem Sektempfang herumlungerten. Gearbeitet hatten sie vermutlich in ihrem ganzen Leben noch nicht.

Ich wollte nicht sagen, dass es derartige Eltern bei unserem Chor nicht auch gab. Es gab jedoch bestimmt nicht so viele auf einen Haufen. Und gerade weil es solche Eltern auch bei uns gab, wusste ich nur zu gut, welche Art Söhne sie häufig hervorbrachten.

Allmählich sprach doch immer weniger dafür, über St. Nikolai nicht die Nase zu rümpfen. Dabei hatte ich den Chor bisher weder gesehen, noch gehört.

Unser Auftritt beim NDR geschah im Rahmen eines Veranstaltungswochenendes namens Jungs mit starker Stimme. Es war ins Leben gerufen worden, weil es den Knaben- und Männerchören von Hamburg und Umgebung an Nachwuchs mangelte. Auf allerlei Workshops wurde deshalb Vermittlungsarbeit geleistet. Krönender Abschluss sollte dann eine Folge von NDR Sonntakte sein, bei der wir und einige andere Knaben- und Männerchöre mitwirkten.

Die Aufzeichnung der Folge würde erst morgen stattfinden. Bereits heute sollten jedoch von jedem Chor einige Stücke gesungen werden. Die Tontechniker des NDR sollten schließlich wissen, worauf sie sich einzustellen hatten. Dies geschah im Rahmen einer öffentlichen Generalprobe. Aus diesem Grunde hatten wir heute alle in Chorkleidung erscheinen müssen.

Während die anderen Chöre sangen, durften wir uns in den Zuschauerraum setzen. Herr Kaiser nutzte die Gelegenheit, um sich neben mich zu setzen. Fünf Mal bestimmt erzählte er mir, wie sehr mir der Anzug doch stand und dass es für mich wirklich keinen Grund gab, auszutreten. Dazwischen lauschte er mit mir den anderen Chören, darunter St. Nikolai.

Unser Chorleiter hatte bereits gestern deutlich gemacht, dass er St. Nikolai nicht als Feind betrachtete. In einer kurzen Rede hatte er die Mitglieder unseres Mutterchores als ‹Kollegen› bezeichnet. ‹Kollegen› sagten die Moderatoren von privaten Fernsehsendern immer, wenn sie von den Moderatoren öffentlich-rechtlicher Sender sprachen. Es folgte dann meist ein Beitrag, in dem sich über das Gebaren der Rundfunkgebühren-Eintreibung ausgelassen wurde. Ich glaubte Herrn Kaiser dennoch gerne, dass er nicht negativ über St. Nikolai dachte. Die damaligen Auseinandersetzungen waren schließlich nicht sein Krieg, sondern allenfalls der seiner Vorgängerin, wie er Frau Siebenkittel immerzu nannte.

Dementsprechend verzog er keine Miene, als St. Nikolai auf das Podest trat. Ich versuchte es ihm gleichzutun, obwohl ich fand, dass der Chor schon kleidungstechnisch kein gutes Bild abgab: Ihre Knaben trugen zusätzlich zu den roten Pullovern rote Fliegen, was ziemlich überfrachtet aussah. Eher amüsant war hingegen, dass es für jeden Knaben und für jeden Mann von uns eine optische Entsprechung bei ihnen gab. So war auch jemanden unter ihnen, der wie ich rothaarig war. Neben ihm stand wer, der wie David ungepflegte lange Haare und eine drahtige Brille hatte. Man hätte das nun sympathisch finden können, nur verstärkte das eher den Eindruck, der bereits durch die roten Fliegen entstand: Unser Mutterchor wirkte wie eine billige Kopie von uns.

Anmerkung im Sinne des Klarstellungsauftrags der Synkope: Der Name Neuer Knabenchor Hamburg dient nicht zur Abgrenzung vom Hamburger Knabenchor St. Nikolai. Er wurde als Hommage auf den Neuen Chor Hamburg gewählt, in dem Frau Siebenkittel früher selbst mitgesungen hat. Leiter war damals übrigens niemand geringeres als Jugendmusikschul-Chef Wolfhagen Sobirey.

Im ersten Teil gab sich St. Nikolai ambitioniert und sang Passagen aus der Johannes-Passion von Bach. Dann war Heaven is a wonderful place dran. In der zweiten Strophe hielten sich die Knaben beim Singen die Nase zu, in der dritten imitierten sie den Klang von Trompeten. Herr Kaiser lachte aufrichtig.

Nachdem St. Nikolai zu Ende gesungen hatte, wandte sich Chorleiterin Rosemarie Pritzkat zum Publikum. Von dem, was sie erzählte, war ich zunächst positiv überrascht: «Ja, ich habe ja gehört, der Neue Knabenchor war in Amerika und das soll ganz schön gewesen sein.» Dann jedoch folgte – mit der Subtilität eines nuklearen Erstschlages – der Angriff: «Wir waren ja auch in Amerika! Und in Südafrika! Und in Shanghai!»

Ich spürte, wie sich meine Pupillen zu Schlitzen verengten. Meine Güte, was für ein Weib. Der Angriff selbst war nicht einmal schlimm. Jeder normalintelligente Mensch würde es sich schließlich denken können: Der Männergesangsverein «Marschtrommel» 1870–71 e.V. konnte auch nach Shanghai fahren, ein besserer Chor wurde er dadurch nicht. Und schon Opa Max hatte gewusst: «Das Pferd, das den Hafer verdient, bekommt ihn selten.»

Nein, der Angriff war nicht schlimm. Schlimm war, dass die Dame sich wohl allen Ernstes besonders raffiniert vorkam. Man konnte ihr echt nur empfehlen, ein paar Stunden bei Frau Siebenkittel zu nehmen. Die war raffiniert. Einmal hatte sie uns beim Einsingen nicht Rose, sondern Rosi singen lassen. Die Männer hatten darüber herzhaft gelacht. Wir Knaben ebenso, obwohl zumindest ich den Witz eigentlich nicht verstanden hatte. Jetzt tat ich es: Rosi war die Koseform von Rosemarie. Und wie das bei Koseformen eben so üblich war, konnte ihre Verwendung zwei verschiedene Dinge zum Ausdruck bringen: Eine ausgesprochen positive Meinung über eine Person oder eben eine ausgesprochen negative.

Welche Meinung ich von Frau Pritzkat haben sollte, bewies sie auch in ihrer übrigen Rede. In jedem dritten Satz kam das Wort Shanghai vor. Man fragte sich, warum sie es nicht noch mit einem Tusch unterlegen ließ. Herr Kaiser verzog immer noch keine Miene. Für alle anderen jedoch war dies der Beginn, oder das Wiederaufflammen, einer wunderbaren Feindschaft.