Der große Triumph

Perlen von Holstein Folge 97

Juni 2004

Es war eine ganz gewöhnliche Mutantenchorprobe: Herr Kaiser malte vorne seine Noten an das Whiteboard, während David, Moritz Von Und Zu und ich uns angeregt über irgendetwas Themenfremdes unterhielten. Es wäre wohl eine ganz gewöhnliche Mutantenchorprobe geblieben, hätte der Mann, der unseren Chor jetzt leitete, nicht einen folgenschweren Fehler begangen: Seine jetzige Frage ausgerechnet mir zu stellen.

«Lennart, kannst du uns bitte sagen, was die Dominante von C-Dur ist?»

Auweia, eiskalt erwischt. Noten lesen konnte ich. Intervalle bestimmen ebenso. Das mit der Dominante und der Subdominante hingegen hatte ich nie so recht kapiert. Ich wusste, die Tonika war die Eins, die Subdominante die Vier und die Dominante die Fünf. Und da ging es auch schon los: Warum zum Geier war die Subdominante die Vier? Kam nach der Eins nicht erst einmal die Zwei? Ich hatte mir nie die Mühe gemacht nachzufragen, denn wissen wollen hatte ich es nicht. Mein Klavierlehrer war damit angekommen, als ich mich längst nur noch für Killerspiele interessiert hatte.

So saß ich nun also da und hatte keinen blassen Schimmer, was die Dominante von C-Dur war. Doch war das kein Grund zu verzweifeln. Nach drei Jahren des fruchtlosen Lateinunterrichts wusste ich ja nur zu gut: Wer keine Antwort kannte, konnte wenigstens Unruhe stiften. Und ich wusste auch schon, wie mir das gelingen würde.

«Ich, ähm, gebe das Wort an, ähm, Moritz weiter», sagte ich.

Moritz war für David und mich eine milde Variante dessen, was ich für meine Klassenkameraden war: Derjenige, der es abbekam. Jemand, den keiner so richtig ernst nahm. Ich rechnete nicht ernsthaft damit, dass er dieses Manöver parieren würde. Dazu war er doch gar nicht fähig. Wie sehr sollte ich mich geirrt haben. Für Moritz war dieses Manöver nämlich nicht weniger als eine glatte Steilvorlage. Wohlgemerkt keine, die er gegen mich zu verwandeln gedachte. Sein Gegner war ein anderer.

«David!», sagte er, «Du kannst das doch sicher viel besser erklären als ich.»

Man musste kein Hellseher sein um zu wissen, was jetzt kommen würde.

David setzte ein schelmischstes Grinsen auf.

«Also ich finde, wenn Sie Lennart drangenommen haben, dann kann der uns das ruhig auch sagen», sagte er.

Herr Kaiser schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

«Nein – Nein! Bitte!», sagte er, «Nein – Leute!»

Es half ihm nichts. Uns war ein einzigartiger Coup gelungen. Ein Sieg, den es auszukosten galt. Und genau das taten wir. Unser Triumphalgelächter war sicher in der gesamten Jugendmusikschule zu hören.

Herr Kaiser tat, was er in den vergangenen Monaten schon so häufig getan hatte: Er öffnete die Tür und ging. Eine Viertelstunde blieb er weg, wenn nicht noch länger. Wir wussten es nicht. Unsere Aufmerksamkeit galt mal wieder nur Moritz Von Und Zus Büchern und deren zum Schreien komischen Titeln.

Schließlich kam er wieder, der Mann, der unseren Chor jetzt leitete. Er war entschlossen, dieses Mal nicht einfach weiterzumachen und so zu tun, als wäre nichts gewesen.

«Leute, bitte, ich weiß ehrlich nicht mehr, was ich noch mit euch machen soll. Und ich verstehe es auch nicht. Wenn ich mit dir montags alleine bin, Lennart, dann machst du immer so toll mit. Dann bist du konzentriert. Dann macht es richtig Spaß, mit dir zu arbeiten.»

Es stimmte. Wenn ich montags bei der sog. Einzelstimmbildung mit Herrn Kaiser zusammen Noten malte, machte ich mit. Und nicht nur das: Ich war sogar richtig nett zu dem Mann, der unseren Chor jetzt leitete. Ich hatte ihm meine alte CD mit Sesamstraßen-Liedern gegeben, auf der sie auf die Melodie von Morgen kommt der Weihnachtsmann das Alphabet sangen. Ihm fehlte es nämlich noch an Repertoire für den Vorchor. Besser gesagt: Für einen der drei Vorchöre. So viele waren das nämlich, seit er unseren Chor leitete. Ich war so zuvorkommend zu Herrn Kaiser, ich hatte mich nicht einmal darüber lustig gemacht, dass er nach eigenen Angaben den Unterschied zwischen einem Binde- und einem Haltebogen immer nicht begriff. Mein Klarinettenlehrer hingegen schon. Als ich ihm davon erzählt hatte, hatte er nur gemeint: «Typisch Sänger.» Mein Klarinettenlehrer vertrat nämlich die Auffassung, dass Sänger meist von eher mäßigem Verstande waren.

So nett konnte ich zu dem Mann, der unseren Chor jetzt leitete, natürlich nicht sein, wenn andere dabei waren. So etwas schickte sich nicht. Deshalb – und weil es so lustig war – machte ich mit David und Moritz Von Und Zu Halligalli. Doch davon hatte Herr Kaiser nun endgültig genug.

«Leute, jetzt sagt mir doch bitte einfach: Was wollt ihr eigentlich? Was soll ich noch mit euch machen? Ich bin mit meinem Latein jetzt wirklich langsam am Ende. Also: Was wollt ihr?»

Ich musste doch sagen, dass mich die Frage ein wenig verwunderte. War das nicht sonnenklar? Hatte er es wirklich die ganze Zeit lang nicht begriffen? Nun, dann mussten wir es ihm wohl tatsächlich sagen.

Wir holten tief Luft und sprachen im Chor: «Wir wollen mal wieder etwas singen, Herr Kaiser!»

Der Mann, der unseren Chor jetzt leitete, blickte uns einige Sekunden lang irritiert an.

«Okay», sagte er schließlich, «dann wartet bitte mal kurz. Ich guck mal, ob ich was für euch finde.»

Er verschwand erneut und kehrte mit einem Buch zurück. ‹Die schönsten Volkslieder›, stand darauf zu lesen. Nicht ganz das, was ich mir vorgestellt hatte, aber ein Anfang. Nach langem Blättern einigten wir uns schließlich auf König in Thule. Ich kannte es nicht, doch David beteuerte, dass es megageil wäre. Und schwer zu lernen schien es auch nicht zu sein.

Wir grölten los, was die mutierenden Stimmbänder hergaben. David hatte recht: König in Thule war megageil. Ich jedenfalls konnte mich nicht entsinnen, wann ich das letzte Mal eine solche Gänsehaut gehabt hatte. Vor meinem inneren Auge sah ich das Schloss des Königs, wie es auf hohen Klippen stand, umgeben von peitschenden Fluten. Eine Szene, wie sie aus einem Fantasy-Killerspiel hätte stammen können. Und als es dann hieß «Er sah ihn stürzen, trinken Und sinken tief ins Meer, die Augen thäten ihm sinken, trank nie einen Tropfen mehr», merkte ich, wie mir die Augen feucht wurden.

Herr Kaiser wollte nach der letzten von sechs Strophen eigentlich ein anderes Lied anstimmen, doch wir sangen den König in Thule einfach noch mal von vorn. Und nach der Probe sangen wir ihn weiter. Wir sangen ihn, als wir an der Haltestelle Alsterchausse auf den Bus warteten. Wir sangen ihn, als wir in den Bus einstiegen. Wir sangen ihn, als wir die Hallerstraße entlangfuhren. Erst, als sich an der Bushaltestelle Schlump unsere Wege trennten, hörten wir mit dem Musizieren auf. Und als ich nun – noch immer vom Rausch befallen – alleine weiterreiste, wurde mir erst wirklich bewusst, wie sehr mir das Singen gefehlt hatte.