Knabenchor ist unser Leben

Perlen von Holstein Folge 95

April 2004

Age of Empires zu spielen hatte mich schon immer froh gemacht. Ebenso die Wiederbelebung von Killerspielen, die ich seit einigen Jahren nicht mehr angerührt hatte. Nostalgie war schon etwas Feines. Ich hatte eine derartige Lust daran entwickelt, dass ich dazu übergegangen war, bestimmte Killerspiele genau zwei Jahre nicht anzurühren. Dann nämlich gereichten sie dazu, mich in einen nostalgischen Rausch zu versetzen. Sogar, wenn die Zeiten, an die sie mich erinnerten, nachweislich nicht schön gewesen waren.

Die Zeiten, in denen ich Age of Empires gespielt hatte, waren schön gewesen. Ich hatte im Chor Freunde gehabt, ich hatte in der Schule so etwas wie Freunde gehabt. Die jetzige Einteilung in Menschen, die alles tun konnten, und Menschen, die es eben abbekamen, hatte es noch nicht gegeben.

Ich wusste noch, wie wir uns damals immer an der vermeintlichen Brutalität des Spiels erfreut hatten. Wie romantisch, ja, geradezu verträumt es eigentlich daher kam, war mir nicht aufgefallen. Dafür war ich in jenen Tagen nicht empfänglich gewesen. Jetzt war ich es umso mehr. Wie lauschig die Urwälder Persiens waren, die ich mit Xenophon und seinen Mannen erkundete. Und wie süßlich der Klang der Oboe, der Flöte und der Gitarre, hin und wieder unterbrochen durch das Rauschen des Meeres.

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Weit weg war der Neßdeich, die Straße oben an der Bushaltestelle. Um den drei Gesamtschülern zu entfliehen, war ich heute quer über ihn hinübergerannt. Ich wäre beinahe von einem Auto angefahren worden. In einer Viertelstunde schon würde ich wieder zum Neßdeich müssen. Er würde mir genauso wenig bedrohlich erscheinen, wie er mir all die Jahre erschienen war. Die Urwälder Persiens waren ihm trotzdem vorzuziehen.

Der heutige Chortermin würde ein ganz besonderer sein. Wir würden nicht singen müssen – anderenfalls dürften David, Moritz Von Und Zu und ich gar nicht dabei sein. Wir sollten nur unser weißes Hemd und unsere schwarze Hose anziehen und nett in die Kamera grinsen. Irgendein Fußballmagazin, wahrscheinlich Kicker oder Sport Bild, wollte uns – warum auch immer – auf seinem Titelblatt haben. Das war vergleichsweise wenig dramatisch. ‹Vergleichsweise› deshalb, weil es vorher geheißen hatte, dass wir deutschlandweit irgendwelche Plakatwände zieren würden. Jeder hätte gesehen, dass ich so peinlich war, im Knabenchor zu singen. Jetzt würde das immerhin nur noch die Leserschaft von Kicker oder Sport Bild erfahren. Wirklich beruhigend war das nicht. Denn die setzte sich aus Leuten wie den drei Gesamtschülern zusammen, die mich wahrscheinlich schon bald darauf ‹ansprechen› würden.

Eine halbe Stunde später saß ich auf der Fähre Richtung Innenstadt. Eigentlich wollte ich meine Killerspielzeitschrift schmökern, doch da waren da andere Reize, denen ich irgendwie nachgeben musste. Der Frühling hatte dieses Jahr ein wenig auf sich warten lassen, jetzt aber war er da. Bisher war das immer nur in der Hinsicht zu begrüßen gewesen, dass es morgens an der Bushaltestelle zumindest nicht mehr schweinekalt war. Dieses Jahr aber kam noch etwas hinzu. Wie schön es doch war, nach so langer Zeit mal wieder den Sonnenschein im Gesicht zu spüren. Man wurde richtig euphorisch davon. Und wie prächtig und farbenfroh die Kutter vor Neumühlen und die Kräne des Tollerort-Terminals auf einmal waren. Am schönsten aber war das Grün.

Ich ließ die Killerspielzeitschrift Killerspielzeitschrift sein und gab mich den Reizen hin. Ich wusste: Prinzipiell hätte ich mir albern vorkommen müssen. Meine Gedanken glichen denen eines Volkslieds. Doch bekam sie ja keiner mit. Außerdem: Ähnliche Gefühle spürte ich beim Spielen meiner Killerspiele seit Jahren. Und da kam ich mir auch nicht albern vor. Es war bei näherer Überlegung sogar begrüßenswert, dass zumindest ein wenig was von ihnen auch in der Realität vorkam. Wenn nun noch die Chortermine den Abenteuern weichen würden, ich wäre richtig glücklich.

Die Fotoaufnahmen sollten in einer Schulturnhalle stattfinden. Auf dem Weg von der U-Bahn dorthin traf ich Moritz Von Und Zu und Imanuel.

«Hey, Lennart», sagte Imanuel, «Sag mal: Hast du ’ne neue Brille?»

«Ja», antwortete ich, «mit dem alten Ding konnte ich nicht mehr richtig gucken.»

Das hatte ich ganz von selbst gemerkt, ohne Sehtest. Als Fahrgast der Hamburger S-Bahn brauchte man solch einen nämlich gar nicht zu machen. Ein Blick auf die Wartezeitanzeigen an den Bahnhöfen genügte. Konnte man die dünnen schwarzen Zahlen auf grellbeigem Grund aus zehn Metern Entfernung noch lesen, sah man perfekt. Konnte man das nicht, war es Zeit für eine neue Brille.

«Ey, ist das eine Frauenbrille?», sagte Moritz, «Ich hasse Frauenbrillen.»

Ging das schon wieder los? Mein Bruder hatte schon beim ersten Anblick gehustet: «Mädchenbrille – Mädchenbrille –» Möglich, dass er recht hatte. Es war ja auch meine kleine Schwester, die das Modell ausgesucht hatte. Sie hatte gemeint, dass mir das Ding stand. Doch hatte offenbar auch das nicht verhindern können, dass auch an diesem Stück Mode wieder jeder Anstoß nahm. Was sollte ich machen? Ich wollte nicht tragen, was die anderen trugen. Auch wenn ich wusste, dass mir das möglicherweise eine Menge Kummer erspart hätte.

Wieso nun aber gerade Moritz Anstoß an meiner Brille nahm? Mit seinen fettigen Haaren fiel er doch wohl in die gleiche Kategorie Mensch wie ich. Ebenso David und Imanuel und fast alle anderen, die im Knabenchor sangen. Natürlich war es gerade deswegen nicht verwunderlich, dass Moritz an meiner Brille Anstoß nahm. Niemand wollte selbst die Kategorie Mensch sein und niemand wollte etwas mit ihr zu tun haben. Ich ja eigentlich auch nicht, ich hatte nur keine andere Wahl, was für Moritz wohl gleichermaßen galt. So konnte ich zumindest ein wenig das Gefühl haben, nicht zu jener Kategorie Menschen zu gehören, auf die sogar Beethoven in seiner neunten Sinfonie schimpfte. Da hieß es ja tatsächlich: «Wem der große Wurf gelungen, eines Freundes Freund zu sein, wer ein holdes Weib errungen, mische seinen Jubel ein. Ja, wer auch nur eine Seele sein nennt auf dem Erdenrund und wer’s nie gekonnt, der stehle weinend sich aus diesem Bund.» Diese Meinung wurde von jedermann geteilt. Sonst wäre das wohl kaum die Europahymne.

In der Turnhalle angekommen, machte ich, dass ich in eine der hinteren Reihen kam. Vielleicht hätte ich ja Glück und mein Gesicht würde überdeckt. Dann würden die Gesamtschüler mich nicht sehen können, wenn sie ihr Exemplar des Kickers oder der Sport Bild in den Händen hielten. Doch, natürlich, noch ehe der Fotograf überhaupt erklärt hatte, was wir auf dem Titelblatt derartiger Druckerzeugnisse zu suchen hatten, stellte er uns alle um. Ich landete in der zweiten Reihe, direkt hinter dem Jungen mit dem Trikot.

«Ja, also das hier, das ist der Michael», sagte der Fotograf, «und der singt bei euch im Chor. Das heißt: Er singt natürlich nicht mit bei euch im Chor, sonst würdet ihr ihn ja kennen. Aber auf unserem Bild heute, da singt er bei euch im Chor. Und er ist so begeistert davon, dass bald wieder EM ist, dass er auch bei euch im Chor sein Trikot trägt, um die deutsche Mannschaft anzufeuern.»

Michael trug nicht einfach nur ein Trikot. Er war blond, blauäugig und hatte trotz seines Alters – ich schätzte ihn auf zehn – bereits ein ziemlich kantiges Gesicht. Er war, man konnte es wirklich nicht anders ausdrücken, ein mustergültiger Arier, dem man auf tausend Meter ansah, dass er nicht zu tun hatte mit uns, die selbst Beethoven verachtete. Doch was kümmerte es mich. Die Hauptsache war, dass der Junge alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Dann würden die Gesamtschüler mich vielleicht gar nicht bemerken.

Immerhin: In einer Sache hatte ich schon einmal Glück. Für einen Menschen seiner Zunft war der Fotograf erstaunlich unpenibel. Ein paar Mal nur nahm er uns auf, dazwischen fummelte er an seiner Kamera herum und verschob Scheinwerfer. Es hätte wirklich schlimmer sein können. Eine halbe Stunde später schon konnte ich mich zurückbegeben zu Age of Empires und den persischen Urwäldern.