Umbauprogramm

Perlen von Holstein Folge 90

Juli 2003

Allen gelegentlichen Rausschmiss-Drohungen zum Trotz: Im Großen und Ganzen nahm Herr Kaiser unseren Probenkrawall noch immer recht gelassen. Ein jahrzehntelang anerzogenes Höchstmaß an Höflichkeit erzog man jemandem nun einmal so schnell nicht wieder ab. Auch wir vermochten das nicht. Und deshalb nahm Herr Kaiser sie gelassen, unsere Anmerkungen, Bemerkungen und Zweideutigkeiten. Einen Satz jedoch gab es, mit dem man den Mann, der unseren Chor jetzt leitete, auf die Palme bringen konnte:

«Frau Siebenkittel hat aber gesagt –»

«Frau Siebenkittel ist jetzt aber nicht mehr da.»

Unrecht hatte er damit nicht, Frau Siebenkittel war nicht mehr da. Sie war dennoch allgegenwärtig. Egal, ob er eine andere Atemtechnik, noch deutlichere Konsonanten oder bei Nun ist alles überwunden ein anderes Tempo wünschte: Die erste Reaktion lautete: «Frau Siebenkittel hat aber gesagt –»

«Die ist jetzt nicht mehr da, verdammt!»

Auch ich sagte es häufig, dieses: «Frau Siebenkittel hat aber gesagt.» Dabei wusste niemand besser als ich: Sie war jetzt nicht mehr da. Lennart nämlich hieß seit April nicht mehr Lenni-Löwe. Der hieß einfach nur noch Lennart. Ich begrüßte das sehr. Als vierzehnjähriger in der U-Bahn von jemandem als Lenni-Löwe begrüßt zu werden, war schon selten peinlich. Und waren wir doch mal ehrlich: Mit einem Löwen hatte ich so viel gemein wie dieses nervtötende Stinktier aus dem Film Bambi mit einer Blume. Von daher konnte ich es nur gutheißen, dass mich seit zwei Monaten jeder nur noch Lennart nannte.

Mit diesem vollständigen Verlust meines Spitznamens nahm ich aber eine Sonderrolle ein. Morle hieß auch weiterhin Morle und Jopi hieß auch weiterhin Jopi. Zumindest für uns. Herr Kaiser nannte sie tatsächlich Moritz und Johann-Peter. Die Verwendung Siebenkittelscher Spitznamen schien er sich regelrecht zu verbitten. Das konnte schon einmal zu Irritationen führen.

«Ja, Lennart, da gehst du am besten mal zum Alexander und fragst den», sagte Herr Kaiser einmal.

«Hä?», antwortete ich, «Wer ist Alexander?»

«Einer von den Männern.»

«Oh, naja, ich kenne jetzt nicht die Namen von allen Männern, das sind ja doch recht viele früher gewesen –»

«Aber mit dem Alexander hast du dich doch eben noch ziemlich lange unterhalten –»

«Ach, Sie meinen Zwergo. Den kenne ich natürlich.»

Doch hörten die einschneidenden Veränderungen bei den Namen nicht auf. Herr Kaiser hatte auch den Chor gleich am ersten Tag vollkommen umstrukturiert. Die Favoriten, der Solo-Chor und alle sonstigen Extratouren waren ersatzlos gestrichen worden. Wir waren jetzt eine klassenlose Gesellschaft. Den Grund dafür sah meine Mutter in Herrn Kaisers Vergangenheit. Er hatte früher im Dresdner Kreuzchor gesungen und dort seine ganze Knabenzeit lang bei der Vergabe von Soli in der ersten Reihe gestanden. Dann aber war der Stimmbruch gekommen und er war plötzlich ein Niemand gewesen. Die anstehende Japanreise war für ihn gestrichen gewesen. So hatte er nur dabei zusehen können, wie einige Knaben nach ihrer Rückkehr mit drei Videorekordern auf der Schulter aus dem Flugzeug stiegen. Ein wahrer Luxus in den Achtzigerjahren, besonders in der DDR. Meine Mutter hatte Verständnis dafür, dass Herr Kaiser derartige Erlebnisse niemand anderem Zumuten wollte. Das mit der klassenlosen Gesellschaft hieß sie dennoch nicht gut.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Herr Kaiser kann Solisten nicht besonders leiden. Damit steht er jedoch in der Musikgeschichte nicht ganz alleine da. Auch Gustav Mahler hatte offenbar ein recht angespanntes Verhältnis zu ihnen. Davon zeugt eine Fußnote in seiner Achten Sinfonie, in der er vorsorglich anmerkte: «Es ist absolut untersagt, dass sich die Vertreter der Solostimmen bei dieser Unisonostelle ‹schonen›.» Ein Gustav Mahler kannte seine Pappenheimer eben.

Von Herrn Kaiser neuester Reform hielt meine Mutter ebenso wenig. Jedes Jahr am letzten Dienstag vor den Sommerferien gingen wir alle gemeinsam zum Schwimmen statt zur Probe. Daran sollte sich auch Herrn Kaiser nichts ändern. Nur würden wir jetzt nicht mehr ins Holthusenbad gehen, sondern in die Alsterschwimmhalle. Nun musste man wissen, dass das Holthusenbad ein Wellenbad war, die Alsterschwimmhalle hingegen ein Sportbad. Einem ordnungsliebenden Menschen wie dem Mann, der unseren Chor jetzt leitete, mochte letzteres besser gefallen. Kinder und Jugendlich aber gingen wohl lieber ins Wellenbad. Deswegen hielt meine Mutter nichts davon, dass wir in die Alterschwimmhalle gehen würden. Auch Ulrich war skeptisch.

«Da sind immer solche Prolls. Und die stinken.»

Ich lachte mich halbtot. Es war schon einzigartig, das von einem Knaben zu hören, der Frau Siebenkittel belehrt hatte, dass man nicht ‹Das kann ich doch in der Pfeife rauchen› sagen durfte. Das war laut Ulrich nämlich ein Nazispruch.

Der Mann, der unseren Chor leitete, ließ sich nicht beirren. Wir gingen in die Alsterschwimmhalle. Die gesamten anderthalb Stunden, die wir dort waren, war eine lange Schlange vor der Riesenwasserrutsche. Andere Attraktionen gab es keine und an Toben im Wasser war nicht zu denken: Auf der einen Seite des Beckens würde man mit den Bahnen-Schwimmern ins Gehege kommen, auf der anderen musste man fürchten, von herabfallenden Turmspringern erschlagen zu werden. Kein Zweifel: Diese Reform war versandet. Man konnte nur hoffen, dass die zukünftigen überlegter sein würden.