Die Farbe Rot

Perlen von Holstein Folge 87

Im Lieferumfang des Jugendmusikschul-Gebäudes waren hochmoderne Stühle enthalten gewesen. Lehne und Sitzfläche ließen sich den Bedürfnissen jedes menschlichen Körpers anpassen. Doch wogen sie eine ganze Menge. Selbst Frau Siebenkittel, weiß Gott eine sportliche Frau, hatte sich mehrfach darüber beklagt. Die Stühle hatten zudem eine erstaunliche Gemeinsamkeit mit den Sitzgarnituren der neuesten U-Bahn-Modelle: Trotz Polsterung waren sie ziemlich unbequem. Wer sich beim ersten Mal genüsslich auf sie hinauffallen ließ, erlebte eine böse Überraschung.

Wohl deshalb hatte die Jugendmusikschule ihr Stuhlrepertoire vor etwa einem Jahr erweitert. Seitdem gab es zusätzlich Stühle mit hölzerner, schalenförmiger Lehne. Sie waren angenehm leicht. Selbst Vorchor-Knaben konnten sie tragen oder zumindest schieben. Sie hatten zudem eine erstaunliche Gemeinsamkeit mit der Dritte-Klasse-Sitzgarnitur der ältesten S-Bahn-Modelle: Obwohl ihre Lehne, wie gesagt, hölzern war, saß man ziemlich bequem.

Um trotz hölzerner Lehne auch hohen Design-Ansprüchen gerecht zu werden, gab es die Stühle in drei verschiedenen Ausführungen: Unlackiert, schwarz und rot. Die rote Variante war die seltenste. Doch war das nicht der Grund, dass ich mich heute so demonstrativ freute, auf ihr sitzen zu dürfen. Der Grund war, dass ich eine entnervt-belustigte Reaktion meine Sitznachbars Philipp sehen wollte. Und die kam natürlich auch.

«Ganz toll, Lennart», sagte er.

«Du bist doch nur neidisch, dass du keinen roten Stuhl hast», erwiderte ich.

Herr Kaiser entpuppte sich als Spielverderber: «Ulrich, Philipp und Lennart, rückt ihr an die anderen heran?»

«Tja, Lennart, das war’s dann wohl mit dem roten Stuhl», sagte Philipp und lachte. Der Stuhl, auf dem ich nun sitzen sollte, war nämlich nicht unlackiert. Wenn ich mich auf ihn begab, würde das einen unglaublicher Präzedenzfall schaffen: Philipp würde aus einem Kampf als Sieger hervorgehen. Das konnte ich nicht zulassen. Während Philipp und Ulrich also an die anderen heranrückten, blieb ich sitzen.

«Lennart, rückst auch du bitte an die anderen heran?», sagte Herr Kaiser. Sein Höchstmaß an Höflichkeit bestärkte mich in meinem Kampfeswillen jedoch nur noch weiter.

«Ich will aber auf einem roten Stuhl sitzen», erwiderte ich.

Die anderen Knaben lachten.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Ein gewisser Hang, sich auch von Obrigkeiten nicht alles gefallen zu lassen, ist unter Musikern durchaus verbreitet. Man erzählt sich, einst seien Goethe und Beethoven durch die Straßen spaziert, als ihnen die Kutsche des Königs entgegenkam. Goethe, der an sich über ein gesundes Selbstbewusstsein verfügte, wich sofort untertänigst aus. Dafür wurde er sogleich von Beethoven schwer getadelt, der ihm einmal zeigte, wie das geht: Er ging einfach stur weiter geradeaus, sodass dem Gefolge des Königs nichts anderes übrig blieb, als ihm auszuweichen.

«Jetzt komm, Lennart», sagte Herr Kaiser

«Ich will aber auf einem roten Stuhl sitzen.»

«Jetzt komm Lennart, ich will jetzt wirklich mit der Probe anfangen.»

Nanu? Entwickelte der Mann, der unseren Chor jetzt leitete, allmählich tatsächlich so etwas wie Durchsetzungsvermögen? Na dann würde mir wohl wirklich nichts anderes übrig bleiben, als einen Platz weiterzurücken. Doch mein roter Stuhl würde mit mir kommen.

Ich stand auf und begann, die Stühle zu verrücken. Die anderen Knaben lachten noch lauter.

Das war dem Manne, der unseren Chor jetzt leitete, zu viel.

«Jetzt komm, Lennart, hör mal bitte auf, den Kasper zu spielen.»

Ich fügte mich, obwohl ich das Gefühl hatte, dass noch viel mehr nötig war, um ihn sein Höchstmaß an Höflichkeit abhandenkommen zu lassen.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Es war durchaus richtig von mir, klein beizugeben. Auch Musiker kennen ja durchaus ihre Grenzen. Natürlich ist Beethoven nicht einfach stur weiter geradeausgegangen, als die Kutsche des Königs ihm entgegenkam. Das ist eine Legende. Vielmehr ist Beethoven artig beiseitegetreten und hat sogar seinen Hut gezogen. Als dann der König aber an ihm vorbeigezogen war, hatte er voller Stolz gerufen: «Es gibt viele Könige auf dieser Welt, aber es gibt nur einen Beethoven.»

In den Proben vor Frau Siebenkittels Weggang war es ziemlich drunter und drüber gegangen. In den Proben, die seitdem gekommen waren, herrschte zuweilen das reinste Chaos. Gründe dafür waren nicht einfach Herrn Kaisers Höchstmaß an Höflichkeit oder seine Art zu dirigieren. Herrn Schoener und Herrn Schönheit hatten wir schließlich auch respektiert. Das Problem saß viel tiefer: Dem Mann, der unseren Chor jetzt leitete, fehlte es an natürlicher Autorität. Welch verheerenden Folgen das für einen haben konnte, hatte neulich erst der Religionslehrer unserer Schule erfahren müssen.

Wir hatten eigentlich Englischunterricht gehabt, doch unser Lehrer hatte noch etwas mit unserem Schulleiter zu besprechen gehabt. Der Religionslehrer unserer Schule war hereingekommen und hatte uns gebeten, uns noch einige Minuten zu gedulden. Außerdem hatte er die Zeit nutzen wollen, uns davon zu überzeugen, im nächsten Schuljahr Religion als Unterrichtsfach zu wählen. Keine halbe Minute war vergangen, da waren bereits die ersten Zettel mit der Aufschrift ‹Ethik› in die Luft gehalten worden.

«Ethik, wir wählen Ethik!», rief einer.

Und hatte zu einem Sprechchor angestimmt: «E, T, H, I, K»

Der Religionslehrer unserer Schule hatte so getan, als würde er es mit Humor nehmen.

«Ja, kleb dir deinen ‹Ethik›-Zettel doch am besten noch auf die Stirn, Lennart», hatte er gesagt.

Genau das hatte ich getan und die Lacher zur Ausnahme mal wieder auf meiner Seite gehabt.

Die Sprechchöre waren lauter geworden: «E, T, H, I, K! E, T, H, I, K!»

Dann aber war unser Englischlehrer hereingekommen. Sofort hatte Totenstille geherrscht. Unser Englischlehrer nämlich hatte natürliche Autorität im Überfluss. Er brauchte einen nur mit bösen Augen anzusehen und man traute sich schon nicht mehr, nur einen Mucks von sich zu geben.

Am nächsten Tag war der Religionslehrer unserer Schule wieder in unsere Klasse gekommen.

«Ja, also ich muss doch sagen, dass ich es nicht okay finde, dass ihr euer Benehmen davon abhängig macht, wer hier vorne steht.»

Die Sprechchöre waren sofort wieder losgegangen: «E, T, H, I, K! E, T, H, I, K!»

Der Grund für seinen Mangel an natürlicher Autorität war beim Religionslehrer unserer Schule schnell ausgemacht: Er war rundlich, füllig, um nicht zu sagen: fett. Seinen Religionsunterricht hielt er meist in einem der wenigen Räume im Erdgeschoss ab. Man hatte ihn extra für ihn freigehalten. Musste er nämlich einmal in den ersten Stock, zog er sich am Treppengeländer hoch wie ein Bergsteiger an einer Steilwand.

Zumindest diesen Anblick würde Herr Kaiser uns so schnell nicht bieten. Er war hager und, wie seine Art zu dirigieren ja durchaus bewies, sportlich. Manchmal spielte er in der Pause mit einigen Knaben Fußball. Das änderte nichts daran, dass er mit seinen glatt gekämmten Haaren aussah wie einer, der in seinem ganzen Leben noch nie ein schlimmes Wort benutzt hatte. Der nicht einmal dann ausrastete, wenn man ihn aufs Äußerste reizte. Vor dem keine Strafe zu fürchten war. Es fiel also an sich schon schwer, ihn wirklich als Respektsperson zu betrachten. Das Höchstmaß an Höflichkeit kam nur dazu.

Herr Kaiser war sicher nicht begeistert von dem Widerstand, den wir ihm in fast jeder Probe leisteten. Doch machte er meist gute Miene zum bösen Spiel. Auch der Vorfall mit dem roten Stuhl war kein Grund für ihn, in der Probe strenger mit mir oder irgendwem anders zu sein. Eines Tages aber langte es ihm.

«Leute, ihr raubt mir noch den letzten Nerv», sagte er.

«Oh Mann, bald gibt’s wieder ’nen neuer Chorleiter», entgegnete Max-Frederick trocken. Wir lachten.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Wenn ein Dirigent geht, wird dies auch dann bedauert, wenn seine Amtszeit nur von kurzer Dauer gewesen ist. Gerade einmal fünf Jahre war Hans von Bülow Leiter der Berliner Philharmoniker gewesen, als er beschloss, aufzuhören. Ein Witz gemessen an den Jahrzehnten, die Nikisch, Furtwängler und Karajan hier wirkten. Trotzdem flehte ihn das Orchester an, doch bitte zu bleiben: «Wie der Schüler dem Meister, ja, wie der Sohn dem Vater in Verehrung sich naht, so naht sich Ihnen in vertrauensvoller Liebe das Philharmonische Orchester –» Rührende Worte, die von Bülow aber nicht zu erweichen vermochten.

«Nein, im Ernst», unterbrach uns Herr Kaiser, «Als ich damals im Februar bei euch war, da habt ihr alle super mitgemacht, da konnte man ganz wunderbar mit euch arbeiten. Warum seid ihr nicht mehr so? Kann mir das mal einer erklären.»

Einen Augenblick lang herrschte Stille. Doch half es ja nichts, irgendjemand musste es ihm sagen. Lukas opferte sich.

«Ja, bevor Sie im Februar zu uns gekommen sind, da hat Frau Siebenkittel uns sozusagen, ähm, gezwungen, ruhig zu sein.»

«Und deswegen seid ihr jetzt also nicht mehr ruhig? Weil Frau Siebenkittel euch nicht mehr dazu zwingt?»

Keiner sagte etwas. Herr Kaiser sah uns einige Sekunden etwas entgeistert an, dann probte er weiter.

In der darauffolgenden Probe herrschte abermals das reinste Chaos. Einige Knaben in der zweiten Reihe, unter ihnen Jannis, bewarfen sich gegenseitig mit Papierkugeln. Der Mann, der unseren Chor jetzt leitete, bat sie, damit aufzuhören. Sie hörten nicht auf. Herr Kaiser ließ sich davon jedoch nicht aus der Ruhe bringen. Er sagte es freundlich, aber bestimmt.

«Jannis, wenn ich dich jetzt noch einmal beim Papierkugelschmeißen erwische, werde ich dich nach draußen schicken. Und dann bist du aber die längste Zeit im Chor gewesen.»

‹Die längste Zeit im Chor gewesen›. Hieß das, er würde ihn herausschmeißen, oder was? Nein, das würde er nicht tun. Das hatte ja nicht einmal Frau Siebenkittel jemals getan. Sie hatte außer Vieregge noch nicht einmal jemanden für fünf Minuten vor die Tür geschickt. Und dazu hätte es weiß Gott mehr als genug Anlässe gegeben. Und jetzt kam Herr Kaiser, dieser Musterschüler, an und erzählte uns allen Ernstes, er wollte jemanden aus dem Chor werfen? Für immer? Das glaubte er doch selbst nicht.

Jannis glaubte es ebenso wenig. Es verging keine Minute, da erwischte Herr Kaiser ihn abermals beim Papierkugelschmeißen. Und tatsächlich.

«Jannis, ich habe dich gewarnt, aber offensichtlich hat das nicht geholfen. Du verlässt jetzt bitte augenblicklich den Probenraum.»

Schweren Schrittes ging Jannis auf die Tür zu. Niemand von uns sagte etwas. Wir rechneten alle damit, dass Herr Kaiser ihn doch noch zurückrufen würde. Aber er rief ihn nicht zurück. Jannis ging durch die Tür und verschwand für immer. Er folgte damit seinem Vater. Der war nach Herrn Kaiser Ernennung zu unserem Chorleiter noch immer der Meinung gewesen, dass der schwule Countertenor die bessere Wahl gewesen wäre. Deshalb hatte er am Eingang der Jugendmusikschule Flugblätter herausgegeben. Herr Sobirey hatte ihm ein unbefristetes Hausverbot erteilt.

Erst in der nächsten Probe trauten wir uns, Herrn Kaiser auf das Geschehene anzusprechen.

«Leute, versteht mich nicht falsch», sagte er, «wenn Jannis zu mir kommen würde und mir sagen würde, dass er unbedingt weiter im Chor sein möchte und ohne ihn nicht leben kann und ich ihm nochmal eine Chance geben soll, dann wäre ich der letzte, der da nein sagen würde.»

‹Und das soll Jannis also sagen, ohne vor Lügen rot zu werden?›, war mein erster Gedanke, ‹Das glaubt der Mann doch selbst nicht.›

In der heutigen Probe ging es gesittet zu, in der darauffolgenden ebenfalls. In der danach war es wieder etwas lauter. Besonders Lukas lief heute mal wieder zur Hochform auf.

Herr Kaiser ließ sich davon jedoch nicht aus der Ruhe bringen. Er sagte es freundlich, aber bestimmt.

«Lukas, kannst du dir eigentlich denken, was passieren wird, wenn es mit dir so weitergeht?»

«Dann – fliege ich raus», erwiderte der. Er war dabei mehr als nur kleinlaut, der Gedanke schien ihn richtig zu entsetzen. Ich hätte sicher ähnlich reagiert. Dabei war für mich klar: Herr Kaiser hatte nur ein Exempel statuieren wollen. Jannis würde der erste und der letzte Knabe sein, den er jemals aus dem Chor geworfen hatte. Doch konnte ich mir da so sicher sein? Ich hatte bis vor ein paar Tagen ja nicht einmal für möglich gehalten, dass er überhaupt irgendjemanden hinauswerfen würde. Nicht, dass ich einen solchen Zugewinn an Freizeit nicht begrüßt hätte. Wie aber würde ich das meinen Eltern erklären? Es war also wohl wirklich besser, auf Nummer sicher zu gehen.

Danach ging es auch in dieser Probe gesittet zu. Herz und Mund und Tat und Leben muss Herrn Kaiser Zeugnis geben, gern mit Furcht und Heuchelei, dass er jetzt der Leiter sei. Der Mann, der unseren Chor jetzt leitete, hatte – mit einem Höchstmaß an Höflichkeit – seine Krallen gezeigt.