Zeiten des Wandels

Perlen von Holstein Folge 77

November 2002

Im Spätherbst mit dem Bus zu fahren konnte eine Tortur sein. Das rechte Bein glühte, weil man sich mal wieder direkt vor den Heizlüfter gesetzt hatte. Die stickige Luft führte im Hals zur Bildung eines schmerzhaften Kloßes. Das steife Lehnenpolster verursachte Rückenleiden. Dann saß man da und zählte die Stationen.

Im Spätherbst mit dem Bus zu fahren konnte aber auch himmlisch sein. Die wohlige Wärme und die Gleichmäßigkeit des Motorengeräusches versetzten einen in eine Trance. Für jemanden, der gerne die Gedanken kreisen ließ, gab es keinen schöneren Augenblick. Man wollte, dass er niemals endete. Man wollte nicht hinaus in das Grau und die Kälte und zu dem Klavierunterricht, für den man nicht geübt hatte. Man wollte einfach, dass alles so blieb, wie es in jenem Augenblick war.

Vor einem halben Jahr hatten wir es erfahren: Frau Siebenkittel hörte auf. Bis zum nächsten Frühjahr noch würde sie unsere Chorleiterin sein, dann würde sie den Taktstock abgeben. An wen, das wussten wir noch nicht.

Bisher war es uns gelungen, das Unvermeidliche zu verdrängen. Erst einmal hatte die Amerika-Reise auf dem Plan gestanden. Sie war wichtiger als alles andere gewesen. Jetzt aber war sie vorbei. Jetzt hatten Frau Siebenkittel und wir nicht mehr viel vor. Eine letzte Weihnachtssaison würden wir noch mit ihr bestreiten, bevor sich im Februar die potentiellen Nachfolger vorstellen würden. Ihr Abschiedskonzert wollte Frau Siebenkittel dann im April geben. Spektakuläres erwartete uns wohl kaum, das große Finale war ja bereits gewesen.

Niemand konnte sich das wohl wirklich vorstellen, einen Chor ohne Frau Siebenkittel. Wir hatten nie unter jemand anderem gesungen. Noch vor Kurzem wäre es völlig unvorstellbar gewesen, dass Frau Siebenkittel jemals nicht mehr Chorleiterin hier sein würde. Frau Siebenkittel leitete den Neuen Knabenchor Hamburg nicht einfach nur. Sie war der Neue Knabenchor Hamburg. Einen würdigen Nachfolger zu finden, würde sich schwierig gestalten.

Meine größte Sorge war ja, ob wir noch einmal jemanden mit Frau Siebenkittels Ansprüchen an uns finden würden. Die Wuppertaler Kurrende ausgenommen, waren alle Kinder- und Knabenchöre, denen wir im Laufe der Jahre begegnet waren, immer schlechter als wir gewesen. Wesentlich schlechter, größtenteils. Würden wir bald auch so sein, ohne Frau Siebenkittels Einsingen, ohne Frau Siebenkittels Vergleiche, ohne Frau Siebenkittels gelegentliche Wutausbrüche?

Die Antwort konnte doch eigentlich nur Ja lauten.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Wenn für einen großen Musiker die Zeit gekommen ist, Jüngeren das Feld zu überlassen, kommen diese oft in Scharen angereist. Für die Nachfolge Dieterich Buxtehudes in der Marienkirche in Lübeck fanden sich gleich drei aussichtsreiche Bewerber: Johann Mattheson, Georg Friedrich Händel und Johann Sebastian Bach. Sie alle sagten aber ab, als sie erfuhren, was die Bedingung war: Sie mussten Buxtehudes Tochter, die rund zehn Jahre ältere Anna Margareta, zur Frau nehmen, «wozu keiner von uns beiden die geringste Lust bezeigte», so Mattheson über sich und Händel.

Wer auch immer Frau Siebenkittels Nachfolger sein würde, meinen Sopran würde er nicht mehr zu hören bekommen. Über zwei Jahre war es her, dass unsere Chorleiterin erste Anzeichen des Stimmbruchs bei mir entdeckt hatte. Passiert war danach nichts. Die hohen Töne waren sogar eher noch ein wenig kräftiger geworden. Damit war jetzt Schluss. Mein Sopran war fort. Die schrille Passage des Songs for Athene hatte ihm wohl den Rest gegeben.

Im Stimmbruch aber war ich deswegen noch lang nicht. Ich sang jetzt im Alt. In der Praxis bedeutete dies, dass ich nun in der dritten Reihe bei Max-Frederick und Ulrich saß. Außerdem würde ich in Frau Siebenkittels letzter Weihnachtssaison alle ihre Lieder noch einmal neu erlernen müssen.

In den Augen meiner Mutter war das kein Problem.

«Lennart kann doch sowieso längst alle Stimmen auswendig.»

Ein eindrucksvoller Beweis dafür, wie wenig sie eigentlich von dem verstand, zu dem sie mich jede Woche hinpeitschte. Die Kunst des gemeinsamen Musizierens war die Kunst des gegenseitigen Ausblendens. Die anderen Stimmen waren nur interessant, wenn sie Aufschluss darüber gaben, wann man selbst einzusetzen hatte. Dann und nur dann hörte man auf sie.

Die Stimme, auf die man hörte, war aber in den allerseltensten Fällen der Alt. Den hörte man nämlich von allen Stimmen meist am wenigsten, wie Vieregge mir schon vor Jahren geklagt hatte. Zu behaupten, dass man ihn gar nicht hören würde, wäre indes gelogen. Bei Es ist ein Ros entsprungen durfte der Alt in ‹und hat ein Blümlein bracht› das berühmt-berüchtigte ‹bra-a-acht› singen:

music snippet

Diese drei Töne zumindest würde ich mir also schon einmal nicht erst aneignen müssen. Alle anderen hingegen schon, in sämtlichen Stücken. Wie gut, dass ich inzwischen deutlich schneller lernte, als noch vor fünf Jahren. Frau Siebenkittel predigte es ja schon seit Jahren: Im Alt saßen die Intelligenten.

Ein Werk übrigens gab es, das ich nicht als Sopran gesungen hatte, das völlig neu war: Übers Gebirg Maria ging. Es gefiel mir wirklich gut. Ich sang es immer, wenn ich in Battlefield 1942 – das Sturmgewehr unterm Arm – über die Gebirgskämme von Iwojima spazierte. Das war doch was Feines. Fast so fein, wie wenn die Digitaluhr neben meinem Computer 19:42 anzeigte.

Ich sang allerdings nur die erste Strophe. Die zweite fand ich eher befremdlich. Da hieß es doch tatsächlich «Was bleiben immer wir daheim? Lasst uns auch aufs Gebirge geh’n.» Eine Äußerung, die von meiner Grundschullehrerin stammen könnte. Warum sangen wir nicht gleich: «Hängt bei diesem schönen Wetter nicht nur vor der Glotze. Geht raus an die frische Luft.» Ich konnte es nicht mehr hören und ich konnte sie nicht mehr sehen: Leute, die einem glauben machen wollten, dass draußen zu sein doch viel besser war als diese blöden Killerspiele. Fragte man sie dann, ob sie denn schon mal eines ausprobiert hätten, kamen nichts als Ausflüchte. Nun ja, der Komponist von Übers Gebirg Maria ging hatte eben zu Zeiten gelebt, als es noch keinen Computer gegeben hatte. Was hatte ihn also vor solch merkwürdigen Einfällen bewahren sollen?