Into the bleak mid-fall

Perlen von Holstein Folge 75

San Diego war unsere letzte Station auf kalifornischem Boden gewesen, die nächste Etappe hieß Chicago. Nach den langen, strapaziösen Busfahrten freute ich mich, endlich wieder ins Flugzeug steigen zu dürfen.

Ich saß am Gang, mein Sitznachbar war Imanuel. Schräg hinter mir saß Schnuten-Philipp. Der war zwar ein Namensvetter des kleinen Philipp, hatte ansonsten aber nichts, aber auch wirklich gar nichts mit jenem gemeinsam. Er trug stets die aktuelle Frisur von David Beckham, momentan also einen Irokesen-Haarschnitt. Seinen Spitznamen verdankte er aber natürlich nicht dieser Mode, sondern der ausgeprägten Schnute, zu der er seinen Mund beim Singen formte. Er machte das, obwohl wir es mit dem Übertritt in den Hauptchor eigentlich nicht mehr machen mussten. Es genügte, den Mund weit zu öffnen.

Schnuten-Philipp war mit anderen Worten niemand, der hier besonders viel zu sagen hatte. Er war allerdings sehr vom Gegenteil überzeugt. Vor dem ersten Konzert in San Francisco hatte er mich seitwärts ins Gebüsch zu stoßen versucht. Und auch heute meinte er wieder, den Aufstand proben zu müssen.

«Haha, guck mal, Lenni-Löwe», sagte er. Er bewarf mich mit einer zusammengeknüllten Serviette.

Ach, wie süß.

Ich wollte etwas Schlagfertiges erwidern, doch Norbert, der in der Reihe vor ihm saß, schnitt mir das Wort ab.

«Lenni-Löwe, du hältst jetzt die Klappe.»

Schnuten-Philipp bewarf mich mit einer weiteren Serviette. Abermals wollte ich reagieren, abermals schnitt mir Norbert das Wort ab.

«Lenni-Löwe! Du hältst jetzt die Klappe.»

Jetzt wurde ich wirklich wütend.

«Hallo, er bewirft mich –»

«Du hältst jetzt die Klappe, Lenni-Löwe.»

Schnuten-Philipp streckte mir die Zunge raus.

«Halt die Fresse, du kleines Pisskind!», sagte ich.

«Lenni-Löwe, wenn du jetzt nicht sofort die Klappe hältst –», sagte Norbert.

«Er! Bewirft! Mich –»

«Es ist mir völlig egal, was deine Meinung dazu ist, Lenni-Löwe. Du setzt dich jetzt hin und hältst die Klappe!»

‹Es ist mir völlig egal, was deine Meinung dazu ist, Lenni-Löwe.› Ja, das war was Feines. Das erinnerte mich doch glatt an das, was im Geschichtsunterricht über das Mittelalter gelernt hatten. ‹Die Kirche irrt sich nie› und solche Sachen.

Eine Stewardess kam. Ich war drauf und dran, sie zu bitten, den Mann dort drüben, also Norbert, doch darauf hinzuweisen, dass die Erde eine Kugel ist. Ich wusste nur leider nicht, wie man das auf Englisch ausdrückte. So konnte ich meinen Kummer nur Imanuel klagen, der vollstes Verständnis für mich hatte.

«Ja, das ist echt ätzend, wenn sich Erwachsene einmischen, obwohl sie gar nichts mitbekommen haben», sagte er.

Nachdem wir gelandet waren, stellte ich mich auf den Gang und stülpte mir meinen Rucksack über. Norbert fand, dass ich zu lange dafür brauchte.

«Lenni-Löwe, kannst du jetzt gefälligst mal in die Puschen kommen? Ich will hier nicht stehen, bis der Flieger wieder abgehoben ist.»

Jetzt lange es mir. Um nicht zu sagen: Hier stehe ich. Ich kann auch anders. Gott helfe dir. Amen.

Ich drehte mich um zu Norbert, sah ihm direkt in die Augen und sagte: «Jawohl, mein Grundherr.»

«Lenni-Löwe, kannst du jetzt einfach mal aufhören, ständig Scheiße zu labern –», erwiderte der. Doch ich befand mich längst auf dem Weg zum Ausgang. Stadtluft machte bekanntermaßen frei.

Annika hatte sich am Strand von San Diego einen schweren Sonnenbrand geholt. Krebsrot waren ihre Beine, von der Hacke bis zur Hüfte. Man hätte meinen sollen, dass sie froh war, der kalifornischen Herbstsonne entronnen zu sein. Doch das war sie nicht. Das war niemand. Ich konnte ihr eigentlich nur beipflichten, als sie schrie: «It’s so fuckin’ cold!»

Natürlich war uns allen klar gewesen, dass es hier im hohen Norden der USA nicht so warm sein würde wie im tiefen Süden. Die Temperaturen untertrafen jedoch noch unsere kühnsten Erwartungen. Wir hatten uns noch keine zehn Meter von unserem Motel entfernt, da war die Kälte mir schon in die Oberschenkel vorgedrungen.

Unser Ziel war ein Frühstücksrestaurant auf der anderen Straßenseite. Dort erfuhr ich, wie die Chicagoer den Temperaturen trotzen: Mit Speisen, eine fetter als die nächste. Und das am frühen Morgen.

Ich entschied mich für die Waffeln. Sie waren rund drei Zentimeter dick. Den für sie bereitgestellten Ahornsirup-Spender ließ ich links liegen. Um diese Uhrzeit bekam ich ja schon ein handelsübliches deutsches Brötchen kaum herunter. Heute schaffte ich zwei von den Waffeln. Die anderen beiden ließ ich mir einpacken.

Wir fuhren zum Field Museum of Natural History, einem Naturkundemuseum. Es hatte eine erstaunliche Gemeinsamkeit mit der St.Patrick’s Cathedral: Es sah viel älter aus, als es überhaupt sein konnte und passte damit nicht so richtig ins Stadtbild. Was ich bisher von Chicago nämlich so gesehen hatte, war ziemlich heruntergekommen und, ja, hässlich gewesen. Jetzt aber stand ich vor einem Bauwerk, dessen griechische Säulen mir die Titelmusik des Killerspiels Empire Earth ins Bewusstsein riefen.

Einer von den Männern erklärte.

«Ja, Lenni-Löwe, weißt du: Es nagt immer ein wenig an den Amerikanern, dass sie selbst keine wirklich alten Bauten in ihrem Land haben. Und deshalb versuchen sie, europäische Gebäude nachzubauen. In England soll es sogar vorgekommen sein, dass reiche Amerikaner Geld dafür geboten haben, alte Schlösser Stein für Stein ab- und in Amerika wiederaufbauen zu können.»

Junge, Junge.

Hinter dem Eingangsbereich des Museums befand sich eine große Halle. In ihr standen Dinosaurier-Skelette, wie man sie schon in so vielen Spiel- und Zeichentrickfilmen gesehen hatte. Sie schienen eben das Herzstück derartiger Museen zu sein. Annika aber war von ihnen nur mäßig angetan. Schnell drängte sie darauf, in den Keller zu gehen. Dort war das, was man hinter der Fassade dieses Gebäudes und überhaupt in einem Museum wohl als letztes vermutet hätte: Ein McDonald’s.

Amerika war eben doch das Land der unbegrenzten Möglichkeiten.

Unser nächstes Ausflugsziel war ein Einkaufspark. Als unser Bus dort ankam, beeilte ich mich nicht. Was ich aus Amerika hatte haben wollen, befand sich in meinem Rucksack. Battlefield 1942 war mein. Mehr brauchte ich nicht. Ich konnte also entspannt neben Annika hertrotten und hingehen, wo auch immer sie hinging. Sie ging zu Wal-Mart.

Wal-Mart gab es seit einigen Jahren auch in Deutschland, allerdings war ich noch nie in einem gewesen. Die Filialen befanden sich nämlich in Gegenden, in die man nur hinkam, wenn man sich gezielt dorthin begab. Gegenden, in denen man für gewöhnlich nicht wohnte, also. Und das war mir für ein Lebensmittelgeschäft doch etwas viel des Aufwands. Außerdem waren mir die Werbespots schon immer ein wenig suspekt gewesen. In ihnen erzählten angebliche Mitarbeiter von Wal-Mart, wie toll es doch war, für dieses Unternehmen arbeiten zu dürfen. Alle waren hier glücklich, alle waren immer gut gelaunt. Die Chefs, die Kunden und auch sie, die Mitarbeiter.

Und das sollte jemand glauben?

Schon kurz nach Betreten des Laden wurde mir klar, dass Wal-Mart hier in Amerika nicht viel anders war. Über dem Mittelgang hing ein großes Plakat. Darauf erzählten Mitarbeiter davon, was sie in ihrer Freizeit alles für die Community taten. ‹Because we live here, too!› Ein Bild zeigte eine Frau in ihrer Wal-Mart-Kluft, ein anderes, wie sie ihrem Kind auf der Schaukel Anschwung gab.

Ob die sich wirklich freiwillig hier so präsentierten? Wenn wir in der Schule mal wieder irgendwelche Selbstbeschreibungen verfassen und an die Wand hängen sollten, gab es immer die gleiche Reaktion: Ein lautes Stöhnen. Dabei sahen das, was wir schreiben sollten, außer uns vielleicht noch ein paar Schüler aus den Nebenklassen. Das Plakat hier in dem Wal-Mart aber sah garantiert jeder, der hier reinkam. Und das waren pro Tag bestimmt etliche tausend Leute.

Bei Wal-Mart gab es Killerspiele und auch sonst alles. Die Regale ragten bis an die Decke. Daneben standen oft Schilder mit Aussagen wie: «Buy three, get one free!». Ich hatte trotzdem nicht vor, etwas zu kaufen. Alleine schon aus dem Grunde, dass Battlefield 1942 mein ganzes Taschengeld aufgezehrt hatte.

Als wir wieder im Bus saßen, nutzte ich zum sicher zehnten Mal die Gelegenheit, es meinen Sangesbrüdern zu zeigen. Philipp war begeistert davon, Max-Frederick ebenso. Und auch Norbert war interessiert.

«Was hast du da, Lenni-Löwe? Zeig mal.»

Ich drehte die Packung in seine Richtung, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Er beugte sich zu ihr herunter. Der Titel des Spiels sagte ihm naturgemäß nichts, doch immerhin: Den Namen der Firma kannte er.

«Oh, ‹EA›. Electronic Arts

Ja, richtig. EA stand für Electronic Arts.

«Ey, Marc», sagte Norbert, «als ich Lenni-Löwe vorhin im Flugzeug gebeten habe, etwas schneller zu machen, weißt du, was er da gemacht hat? Er dreht sich zu mir um und sagt so: ‹Jawohl, Herr Großinquisitor.› Herr Großinquisitor, hahaha.»

Nein, ich hatte Grundherr gesagt.

Auf dem Rückweg zum Motel hatte Marc eine freudige Mitteilung zu machen.

«Ja, einige von euch haben vielleicht schon mitbekommen, dass wir hier in Chicago einen ganz tollen Busfahrer haben. Bisher, also zum Beispiel in Kalifornien, hatten wir ja nicht so viel Glück – Egal! Jedenfalls ist unser Busfahrer nicht einfach nur Busfahrer, er kennt sich auch unglaublich toll mit der Geschichte von Chicago aus. Er hat mir zum Beispiel eben vom Großen Brand von Chicago war, der, so um den Dreh, 1870 gewesen ist. Ihr müsst wissen: Da ist wirklich die ganze Stadt abgebrannt. Nicht nur die Häuser, sondern auch die Bürgersteige, weil auch die damals noch aus Holz waren. Ja, aber das Interessanteste ist: Wisst ihr, warum es gebrannt hat? Weil eine Kuh eine Öllampe umgestoßen hat.»

Der ganze Bus brach in schallendes Gelächter aus.

«Naja», fuhr Marc fort, «aber worauf ich eigentlich hinauswollte: Unser Busfahrer ist wie viele in Chicago ein leidenschaftlicher Soul-Fan und singt wohl auch selbst manchmal in so ’ner Kneipe. Und er hat hier vorhin angeboten, ein bisschen für uns zu singen. Ist euch das recht?»

Jonas, Klaas und Löning johlten und klatschten. Auch von den kleinen Knaben kamen deutliche Zeichen der Zustimmung. Das ließ sich der Busfahrer nicht zwei Mal sagen. Er legte eine Kassette mit Instrumentalbegleitung ein und schmachtete drauf los. Seine Stimme war füllig und samtig weich zugleich. Und er sang mit einer Innbrunst, die unseren Chor beinahe alt aussehen ließ. Wir waren begeistert. Es verstand sich von selbst, dass es nicht bei einem Lied blieb. Nach jeder Nummer entlockten wir ihm mit unserem Applaus eine weitere. Irgendwann aber kamen wir beim Motel an.

«Thank you, everybody!», sagte der Busfahrer. Und entließ uns ins Chicagoer Herbstwetter.