Not a Gay Zone

Perlen von Holstein Folge 69

Der Tag begann in einem Frühstücksrestaurant nahe unserem Motel. Neben Annika und mir saß auch Andrea am Tisch, Frau Siebenkittels Tochter. Für sie war es kein schöner Morgen. Sichtlich angewidert musterte sie die Speisekarte.

«Gibt es wirklich nichts anderes?», fragte sie.

Ich warf selbst einen Blick in die Karte. So ganz unrecht hatte Andrea nicht. Die angebotenen Speisen waren nicht gerade schmackhaft. Das meiste war sehr gemüselastig.

Andrea betrachtete die Karte noch einmal von allen Seiten.

«Das ist ein Witz, oder?», sagte sie.

Eine Bedienung kam. Annika bestellte für uns alle das gleiche: Einen großen Frühstücksteller und eine Cola. Den Frühstücksteller brachte die Dame uns gerne, Cola, Fanta und Sprite gab es nicht. Die hatten sie hier nur an Werktagen. Eine wirklich dicke Überraschung. Wenn es etwas gab, das man in Amerika an jeder Ecke erwartete, dann war das Cola. Andererseits hatte ich auch an jeder Ecke einen Killerspiel-Laden erwartet und war bisher nicht fündig geworden.

Wenn angewiderte Blicke Speisekarten altern lassen könnten, die von Andrea wäre binnen Sekunden zu Staub zerfallen. Wir brauchten sie wohl nicht zu fragen, ob die Alternativen zu Cola, Fanta und Sprite für sie in Frage kamen.

Annika bestellte schließlich für uns alle einen Eistee. Die Dame servierte ihn sogleich. Andrea nahm einen Schluck.

«Ih!»

Sie schob ihn weit von sich und machte Platz für den Frühstücksteller. Als er kam, wartete sie nicht, bis die Bedienung sich wieder von unserem Tisch entfernt hatte. Sie biss gleich in das Brot.

«Ihhh!»

Dann nahm sie ein Blatt von dem Salat.

«Ihhhhh!»

Schließlich versuchte sie es mit den Tomaten.

«Ihhhhhhh!»

Annika und ich lachten dermaßen, dass uns beinahe das frisch heruntergeschluckte Essen wieder hochkam.

Für Vieregge war es ebenso kein schöner Morgen. Zum dritten Mal infolge war er zu spät beim Bus. Viel zu spät. Marc hatte genug.

«Die Knaben warten bei der Grace Cathedral mit ihren Gasteltern auf uns und verlassen sich darauf, dass wir pünktlich sind! Das kann nicht wahr sein, dass die länger dort rumstehen müssen, weil einige von euch Männern nicht in die Puschen kommen! Ihr seid Vorbilder für die und das wisst ihr ganz genau! Und mir dir, Vieregge, reicht mir das jetzt. Du bekommst jetzt wie die Knaben einen Paten, der darauf zu achten hat, dass du pünktlich bist. Der kann auch gerne deine Dollar bezahlen, wenn du meinst, das nicht tun zu müssen. Wer erklärt sich bereit?»

Zum Mittagessen sollten Andrea, Annika und ich doch noch Cola, Fanta und Sprite bekommen. In rauen Mengen, wenn wir nur wollten. Zum ersten und wahrscheinlich letzten Mal in der Geschichte des Neuen Knabenchors Hamburg gingen wir alle gemeinsam zu McDonald’s. Dessen amerikanische Ausgabe unterschied sich von der deutschen vor allem hinsichtlich der Verpackungsformate: Cola, Fanta und Sprite wurde in Bechern von Strandeimergröße verkauft, Pommes in Tüten vom Format eines Aktenordners.

«Ey, jetzt müsste man mal so ’ne leere Pommes-Packung einstecken, damit in Deutschland zu McDonald’s gehen und sagen: Hier, vollmachen!», sagte einer der Männer.

Klein war dagegen die Filiale. Marc bat uns alle, zügig zu essen. So konnten diejenigen, die bereits fertig waren, die Stühle freimachen für die, die bis eben noch in der Schlange gestanden hatten. Ich war einer der ersten, die aufgegessen hatten – meine Mutter staunte immer wieder über die Geschwindigkeit, mit der ich bei Fast-Food zu Werke ging. Da ich keine Lust verspürte, in der Hitze draußen zu stehen, begab ich mich zum Bus. Der hatte eine Klimaanlage. Sie leistete derart gute Arbeit, dass ich mir eine Erkältung zugezogen hatte.

Ich war nicht der erste im Bus. In der letzten Reihe saßen Jonas, Klaas und Löning. Ihr Gespräch klang ungewöhnlich ernst.

«Tja, seht ihr: Jetzt sind wir mal überpünktlich und außer uns ist keiner da.»

«Ob der gute Marc wohl selbst einen Dollar bezahlen würde, wenn er mal zu spät kommt?»

«Ach, das glaubst du doch selbst nicht. Bei dem wäre das ja etwas völlig anderes. Er hat ja schließlich seine Gründe!»

«Ey, ehrlich, ich finde diese Regelung so behämmert. Vor allem: Am Anfang war das doch noch als Witz gemeint, oder habe ich das irgendwie falsch verstanden?»

«Nein, hast du ganz bestimmt nicht. Die Idee selbst war als Witz gemeint. Wer auch immer ihn sich ausgedacht hat, konnte ja nicht ahnen, dass Marc das ernsthaft machen würde.»

«Der hat sowieso momentan so den Arsch offen. Alleine diese Aktion mit Vieregge heute Morgen wieder. Ich meine: Ja, Vieregge ist ’ne alte Transuse, aber davon gibt es hier ja doch einige mehr. Und ihn dann gleich so vor versammelter Mannschaft zur Sau zu machen!»

«Ach, das ist doch letztlich nur, weil Frau Siebenkittel den Vieregge eben nicht leiden kann und noch nie leiden konnte. Und da ist er natürlich ein dankbares Opfer, vor allem, weil er sich ja nie einfach mal wehrt. Ich hätte mir das nicht gefallen lassen!»

«Nee, ich definitiv auch nicht. Ey, und stellt euch mal vor, das wäre jetzt nicht Vieregge gewesen, der zum fünften Mal zu spät gekommen ist, sondern irgendein Solist. Da hätte bestimmt wieder kein Mensch was gesagt.»

«Nö, hätte niemand. Das ist hier ja echt nur noch Zweiklassengesellschaft!»

«Richtig! Und ich habe da auch kein Bock mehr drauf, hier ständig wegen irgendwelcher Lappalien persönlich zur Sau gemacht zu werden, nur, weil meine Stimme halt nicht so gut ist. Und ich meine: Was bringt uns das eigentlich, diese ganze Solisten-Show? Sind wir dadurch wirklich besser? Alleine das Konzert gestern: Habt ihr mal darauf geachtet, wie viele Fehler wir machen?»

«Ja, das Konzert gestern war echt krass schlecht. Wenn ich da an Regensburg denke, wie stolz ich damals war, in diesem Chor zu sein.»

«Ja, und alleine aus diesem Grunde und wegen der Zweiklassengesellschaft muss ich sagen: Ich meine, ich habe immer gerne hier gesungen und so. Und man kann mit Frau Siebenkittel ja wirklich eine Menge Spaß haben. Aber ich freu mich langsam nur noch, wenn in ’nem halben Jahr jemand anders kommt, der vielleicht den ganzen Laden mal von vorn bis hinten umkrempelt. Andererseits habe ich auch kein Bock, mir die Reise versauen zu lassen.»

«Nee, das fehlt echt noch. Aber wenn Marc hier noch einmal ankommt und einen Dollar für irgendwas will, schleuder’ ich ihm ihn ins Gesicht!»

Ein großer Tross von Chormitgliedern näherte sich dem Bus. Unter den Einsteigenden waren auch Annika und Andrea. Sie gesellten sich zu Jonas, Klaas und Löning. Die hatten längst andere Töne angeschlagen.

«Wer kommt des Nachts, bei Gewitter und Sturm? Es ist der Tittenwurm!», sagte Löning. Dabei versuchte er, Jonas in die Brustwarze zu kneifen.

«Wer kommt bei Nacht und Nebel? Es ist der Tittenknebel!», erwiderte der. Er versuchte seinerseits, Löning in die Brustwarze zu kneifen.

Annika und Andrea amüsierten sich köstlich.

Am Abend waren wir mal wieder in Patengruppen unterwegs. Meine bestand aus Annika, Andrea, Guido und Morle, der eigentlich Moritz genannt werden wollte. Er war schließlich bald siebzehn Jahre alt.

«Ey, seht ihr, was der Bettler dahinten auf sein Schild geschrieben hat?», sagte Guido, «‹Why lie? It’s for beer!› Das ist ja wohl mal sowas von klasse! Wartet, dem gebe ich was!»

Er ging zu dem Bettler und legte ihm einen Fünf-Dollar-Schein in die Mütze. Das bereute er wahrscheinlich, als wir auf den nächsten hundert Metern fünf weiteren Bettlern begegneten. Sie hielten genau das gleiche Schild in der Hand.

Wir gelangten zu einer Uferstraße, auf der das touristische Leben tobte. Der Fahrer eines getunten Autos blieb mitten auf der Fahrbahn stehen. Er wollte zeigen, was in seinem Wagen steckte. Begleitet von einem Surren und dem schelmischen Grinsen des Fahrers hob sich erst die Motorhaube und dann das Heck. Sein Lohn waren Hupen und schallendes Gelächter.

Gelächter erntete auch ein Mann, der sich als Roboter verkleidet hatte. Er stand ganz unscheinbar auf einem Eimer herum und machte Pantomime. Eine Viertelstunde lang scharten sich die Menschenmengen um ihn, dann allerdings stahl ihm jemand die Show. Auf der anderen Straßenseite kauerte hinter einem Mülleimer ein Mann mit einem großen Plastikbusch. Dort kauerte er so, dass Vorbeigehende ihn nicht sehen konnten. Hatte er ein – meist weibliches – Opfer ausgemacht, streckte er ihm den Busch entgegen. Das Opfer kreischte, diejenigen, die es sahen, lachten. Er hatte selbst so viel Spaß dabei, dass das auch beim zehnten Mal noch lustig war. Bald war unsere ganze Straßenseite voll mit Leuten, die dem Spektakel beiwohnen wollten.

Ich fand trotzdem, dass es jetzt mal langsam an der Zeit war, sich um Battlefield 1942 zu kümmern. Annika ließ sich schließlich breitschlagen.

«Lass uns mal dahinten hingehen, ich glaube, da gibt es Läden», sagte sie.

Wir gingen aber in kein Killerspiel-, sondern in ein Modegeschäft.

«Nur ganz kurz, Leo», sagte Annika. In Gegenwart der Männer redete sie Deutsch mit mir.

Aus ganz kurz wurde ganz schnell ganz lang. Dabei war ich nicht der einzige, der nicht die geringste Absicht hegte, hier etwas zu kaufen. Guido und Morle schufen nur unablässig geschmacklose Sonnenbrillen, Halsketten und Lederpelzmäntel herbei, um sich darin fotografieren zu lassen.

Annika streichelte Morle durchs Haar.

«Morle», sagte sie.

«Moritz», entgegnete er.

Ich versuchte krampfhaft, der Situation irgendetwas abzugewinnen.

«Wir hatten doch früher auch eine Kassette mit einer Katze, die Morle hieß. Waldi und Mohrle», sagte ich.

«Genau!», erwiderte Annika, «Unsere Katze Mohrle!» Sie streichelte Morle noch kräftiger durchs Haar.

An eine Kassette dieses Namens konnte ich mich nicht erinnern.

Guido und und Morle hatten irgendwann genug von den Sonnenbrillen. Endlich konnten Annika und ich uns den wichtigen Dingen im Leben widmen, meinte ich. Sie aber begann nun, gemeinsam mit Andrea überall an Morles Kopf bunte Haargummis anzubringen. Seine Locken eigneten sich wahrlich prächtig hierfür. Dennoch konnte ich beim besten Willen nicht verstehen, was daran nun so witzig war.

Gleiches galt für das, was folgte. Guido und Morle gingen händchenhaltend die Straße entlang, Annika, Andrea und ich folgten ihnen mit einigen Metern Abstand.

Die Leute in den Cafés waren entsetzt. Einer rief: «This is not a gay zone!»

Annika und Andrea kicherten. Ich kicherte mit ihnen, das erwarteten sie von mir.

Als wir dann aber beim Parkplatz ankamen, machte ich, dass ich in den Bus hineinkam. Außer mir war hier noch keiner. Der Motor war abgeschaltet, sodass kein Licht brannte. Beim Anblick des tiefen Schwarzes unter den Sitzen wurde mir Angst und Bange, doch der Gedanke an das Geturtel da draußen trieb mich weiter in den Fahrgastraum.

Ich setzte mich auf meinen Platz und ließ die Gedanken kreisen.

Guido benutzte beim Sprechen andauernd ein lustiges Wort: schnorren. Es hieß in etwa das Gleiche wie schmarotzen. Das war ebenso ein lustiges Wort, eines jeder Wörter, über die man desto mehr lachen musste, je länger man über sie nachdachte. Man hörte ihm seine Bedeutung einfach so schön an. Ob es dafür wohl auch eine Bezeichnung gab, die nicht ulkig klang? Bestimmt nicht. Bestimmt war das wie mit im Spiel betrügen. Die Wörter dafür hörten sich alle komisch an: Schummeln hörte sich komisch an, mogeln hörte sich komisch an.

Ich hatte Annika vorhin auf den lustigen Klang des Wortes Schnorren hingewiesen, war aber auf Unverständnis gestoßen.

«Ach, nun laber’ doch nicht immer so viel Scheiße, Leo.»

Ich wusste gar nicht, was sie hatte. Ein Klassenkamerad hatte sich neulich drei Stunden lang über das Wort Zweck kaputtgelacht. Doch der besaß ja auch Verständnis für Killerspiele.