The Choir of Saints

Perlen von Holstein Folge 68

Beim Konzert in der Grace Cathedral machten wir wieder mehr Fehler. Konsonanten wurden nicht gemeinsam abgesprochen, es wurde an falschen Stellen eingesetzt, lange Noten nicht bis zum Ende ausgesungen. Es war nicht so schlimm wie in der St. Patrick’s Cathedral, aber schlimm genug. An der Konzertatmosphäre konnte es nicht liegen: Die Grace Cathedral vereinte die Imposanz der St. Patrick’s Cathedral mit dem still lauschenden Publikum der Rockefeller University.

Wir sangen gerade Wohl mir, dass ich Jesum habe. Ein Chorstück mit Orgel, naja, eigentlich mehr ein Orgelstück mit Chor. Wir hatten wie so häufig bei Bach lediglich eine verschnarchte Melodie mit gottesfürchtigem Text zu singen. Unser Organist Jünne durfte sich dafür mächtig austoben. Die Orgellinie war ein mächtiger Ohrwurm und im Grunde das ganze Stück über gleich. Am Anfang stand sie in einfältig lächelndem Dur, danach in theatralisch ergriffenem Moll und schließlich in irgendwas dazwischen. Ich mochte das Werk, wenngleich ich es hasste, es zu proben. Es fehlte einfach die Orgel.

Die Augen der Damen und Herren im Publikum wurden auch dieses Mal mit jedem Stück größer. Manche von ihnen sahen uns seliger an als sämtliche Omis in Tabea und Albertinen zusammen. Etwas dermaßen Schönes schienen sie noch nie gehört und gesehen zu haben.

Dabei stand der Höhepunkt des Konzerts noch bevor.

Marc trat nach vorne. Er erzählte davon, wie wir bereits letztes Jahr in die USA hatten reisen wollen. Wie sehr uns die Anschläge vom 11. September schockiert hätten. Und wie wir die Toten von New York, Washington und Pennsylvania heute betrauern wollten. Wir würden singen: Unser Leben ist ein Schatten, Nun ist alles überwunden und Song for Athene.

Den Blicken der Zuschauer war es deutlich anzumerken: Jetzt hatten wir sie endgültig. Wer von ihnen konnte auch ahnen, dass Unser Leben ist ein Schatten seit mehr als vier Jahren zu unserem festen Repertoire gehörte. Es interessierte aber wohl auch niemanden. Außerdem: den Song for Athene hatten wir tatsächlich für Amerika einstudiert.

Er war für den Unfalltod eines Mädchens komponiert worden und weltberühmt geworden, als er beim Begräbnis von Prinzessin Diana gespielt worden war. Man musste sagen: Er war ziemlich beeindruckend. Besonders, wenn man ihn so sang wie wir.

War das Stück dran, stellten sich die Männer in einem großen Kreis um die Zuschauerreihen. Dann hüllten sie den ganzen Saal mit langen Summtönen in ihrem Klang ein. Damit schienen sie das Geschehen aus der Ferne zu kommentieren. Dieses Geschehen fand in den Knabenstimmen statt. Wir blieben bei dem Stück vorne stehen und sangen: «Ma-ay flights of Ange-els sing thee to thy rest»

Für mich klang das so, als wären das die Worte, die das Mädchen auf seinem Weg ins Jenseits hört. Dabei entschwebte man ja angeblich seinem Körper und sah, was um diesen herum geschah. Dort standen wahrscheinlich gerade die weinenden Angehörigen.

Die bedrückte Stimmung schlug mehr und mehr in Verzweiflung um. Wir hatten einige raue Klänge zu bewältigen, an deren Ende die Worte standen: «Life: a-a shadow and a dream!» Es schien keinen Ausweg aus dem Tal der Tränen zu geben. Der Tod war nun einmal endgültig.

Doch sollte man ja beim Eintreten ins Jenseits einen langen, schwarzen Tunnel durchqueren, an dessen Ende ein helles Licht wartete. Und genau in dieses schien das Mädchen nun einzutreten. Wir hatten plötzlich einige unglaublich hohe Töne zu singen. Sie mit meinen vierzehn Jahren noch zu bekommen, verlangte mir einiges ab, doch das machte mir nichts aus. Ich wollte dabei sein, wenn sich alles in grenzenlose Glückseligkeit auflöste. Wenn das Mädchen an einem besseren Ort ankam – einer Welt wie die des Fantasy-Killerspiels The Legend of Shaismonthos: «Come, e-enjoy re-ewards and crowns I have prepa-a-ared fo-or you!»

Nach dem Konzert herrschte einige Sekunden lang Stille. Dann begann der Applaus. Es war kein frenetischer Applaus, wie der nach unseren Weihnachtskonzerten. Er wirkte eher wunderstill beglückt. Die Leute johlten auch nicht oder trommelten mit den Füßen – etwas, das zuhause durchaus vorkam. Sie standen auf. Einer nach dem anderen standen sie auf.

«Stand up! For the champions, for the champions, stand up!», sangen einige Knaben neben mir.

Einige Männer waren weniger euphorisch.

«Also, ob das nun Standing Ovations wert war? Ich weiß ja nicht.»

«Nein, ehrlich nicht.»

«Nö, ich fand uns heute auch wirklich nicht gut.»

Die Stimmen gehörten Jonas, Klaas und Löning.