More than Music

Perlen von Holstein Folge 66

Am nächsten Morgen fuhren wir gleich nach dem Frühstück zu unserem nächsten Konzert. Marc war guter Dinge. Er hatte uns nämlich etwas mitzuteilen.

«Hier hatte vorhin jemand eine Idee – die ist so gut, die könnte fast von mir sein – nämlich, dass jeder, der zu spät kommt, für jede Minute Verspätung einen Dollar bezahlen muss. Ich glaube, das führen wir hier echt mal ein. Also, Jonas und Vieregge: Habt lieber ab jetzt immer ein paar Ein-Dollar-Scheine bei euch.»

In den Erwachsenenreihen brach schallendes Gelächter aus. Es handelte sich bei dieser Strafandrohung also wohl tatsächlich nur um einen Witz. Geld einkassieren, wie sollte das gehen, wenn einigen Knaben vielleicht gar keines mithatten? Wenn sie bereits alles ausgegeben hatten? Wollte Marc die dann nicht in den Bus lassen? Sollten wir dann nur in halber Besetzung singen, weil die andere Hälfte mit drei bis fünf Dollars in der Kreide stand?

Nein, Marc hatte wohl definitiv nur einen Witz gemacht.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Bei Geld hört die Freundschaft auf, das gilt natürlich auch für Musiker. Das musste Herzog Galeazzo Maria Sforza erfahren, als Josquin Desprez ihn mit dem Lied El Grillo keck an seine Zahlungspflichten erinnerte. Josquin war wohlgemerkt nicht nur einer, der seine Arbeit fürstlich bezahlen ließ. Er tat sich dann auch noch durch konsequent divenhaftes Verhalten hervor. Gian di Artiganova empfahl deshalb seinem Herzog Ercole I d’Este, lieber Heinrich Isaac zum Hofkapellmeister zu machen: «Mir scheint er gut geeignet, Euer Gnaden zu dienen, besser als Josquin, weil er zu seinen Musikern von liebenswürdigerem Wesen ist und öfter neue Werke komponieren will. Dass Josquin besser komponiert, ist richtig, aber er komponiert, wenn er es will und nicht, wenn man es von ihm erwartet, und er verlangt zweihundert Dukaten als Lohn, während Isaac für hundertzwanzig kommen will.»

Der Ort unseres zweiten Auftritts war die Rockefeller University. Wir sangen in einem Saal, der nicht nur im Vergleich zur St. Patrick’s Cathedral überaus nüchtern wirkte. Der Boden bestand aus einem Parkett, das mich an die Handelsschule Kellinghusenstraße denken ließ. Und über den Türen prangten rote Notausgangsschilder. Wir waren hier offenbar im Hörsaal gelandet.

Dafür hatten wir wieder ein Publikum im eigentlichen Sinne, also eines, das von Anfang bis Ende still lauschte. Ich war mit unserer Leistung auch gleich deutlich zufriedener als gestern. Zwar geschah uns auch heute der eine oder andere Patzer, doch waren es welche, über die man hinwegsehen konnte.

Den Zuhörern jedenfalls schienen sie völlig egal zu sein. Mit jedem Stück wurden ihre Augen größer. Wir lockten zudem eine ganze Schar von Zaungästen an: Über den Zuschauerreihen gab es eine Empore. Zu Beginn des Konzertes war sie noch völlig leer gewesen, inzwischen standen dort gut fünfzig Leute. Einige von ihnen trugen Doktorkittel und Stethoskop und schienen gerade noch etwas völlig anderes vorgehabt zu haben.

Unter frenetischem Applaus verließen wir den Saal. Ein Mann umfasste Frau Siebenkittels Schultern und sagte: «It was more than music!»

Im Nebenraum hatte man ein reichhaltiges Buffet für uns aufgebaut. Ich war leider mal wieder zu langsam und bekam nur die Reste ab, namentlich Cola light. Oder wie es hierzulande hieß: Diet Coke. Ich glaubte zunächst, dass das wohl nicht schlimm wäre. Mein großer Bruder und ich hatten vor sicher zehn Jahren mal eine Flasche Cola light gekauft. Wir hatten keinen geschmacklichen Unterschied feststellen können. Das schien jedoch entweder nur in Deutschland zu gelten oder meine Geschmacksnerven waren seitdem deutlich empfindlicher geworden. Was für eine widerliche Plörre! Das war ja schlimmer als Dr. Pepper.

Ich hielt mir die Nase zu und stürzte sie hinunter. Dabei lauschte ich den Erzählungen Tottos.

«Wisst ihr, meine Lieblingsstelle von den Simpsons ist und bleibt ja die, wo Homer in den kaputten Raumschiff rumschwebt und zum Donauwalzer die Kartoffelchips mampft.»

Ja, das war eine schöne Szene. Meine Lieblingsfolge war und blieb aber die, in der Homer auf Drängen seiner Ehefrau Marge dreißig Tage lang dem Alkohol entsagen muss. An einem Bahnübergang erlebt er seine schwerste Prüfung. Ein Güterzug mit Containern der Duff-Brauerei fährt an ihm vorbei. Homer versucht, Reißaus zu nehmen, stürzt jedoch über eine am Boden liegende Duff-Dose. Hilflos auf dem Boden liegend, erblickt er am Himmel einen Zeppelin. Der befiehlt über seine Anzeigetafel: ‹Ergib dich dem Duff!› Und wirft erbarmungslos eine Ladung Duff-Flaschen ab, die an kleinen Fallschirmen auf Homer darniedersegeln.

Das war wirklich lustig und ließ mich die abscheuliche Diet Coke vergessen. Außerdem war das Essen wirklich nicht zu verachten. Es schmeckte eigentlich ganz vorzüglich. Oder, wie es später jemand im Gästebuch ausdrücken würde: «It was more than food!»

Am Abend besuchten wir das Empire State Building. Dieses war seit dem 11. September zwar immer noch nicht mehr das höchste Gebäude der Welt, aber immerhin wieder das höchste von New York. Ich konnte mir vorstellen, dass sein Eigentümer nicht unglücklich hierüber war. Wir jedenfalls hätten wahrscheinlich eher das World Trade Center aufgesucht, wenn es noch gestanden hätte.

Der Eingangsbereich ließ mich daran denken, dass wir morgen früh wieder ins Flugzeug steigen würden. Wir mussten eine Sicherheitskontrolle und ein Labyrinth aus Absperrbändern durchqueren. Ein Vorgang, den ich ein wenig beschleunigen wollte.

«No running, please!», rief eine Beamte.

Dem Labyrinth aus Absperrbändern schloss sich eine Fahrt mit einem Aufzug an. Der war das, was wir hier nicht sein durften: Schnell. Rasend schnell. Ich fühlte mich an irgendeine Animaniacs-Folge erinnert, bei der sich im Fahrstuhl jedes Mal die Gesichtshaut der Protagonisten gelöst hatte. Bedauernswerterweise war es keine durchgehende Fahrt. Insgesamt drei Mal mussten wir den Aufzug wechseln. Jeder Wechsel brachte ein neues Labyrinth aus Absperrbändern mit sich.

Die Aussichtsplattform befand sich im 86. Stock, in 320 Metern luftiger Höhe. Für mich ein triftiger Grund, es mit der Angst zu tun zu bekommen. Das einzige, was ich noch mehr fürchtete als dunkle Wandschränke in dunklen YMCA-Zimmern, waren große Höhen. Und dies war ohne Zweifel eine große Höhe. Umso erstaunlicher war es, dass mich noch keine milde Panikattacke befallen hatte. Das sagte ich Annika – Höhenangst durfte man zum Glück auch als vierzehnjähriger noch haben.

«Well, you’re maybe not afraid because there is safety», sagte sie. Dabei rüttelte sie an dem mächtigen Gitter, das die Plattform umgab. Es sah in der Tat geeignet aus, jeden beabsichtigten oder unbeabsichtigten Sturz in die Tiefe zu verhindern.

Doch würde es irgendetwas nützen, wenn das Empire State Building plötzlich umkippte? Es schwankte ja doch ganz schön. Und die Autos unten auf den Straßen sahen von hier oben ja nicht mal mehr wie Spielzeuge aus. Man hatte eher den Eindruck, auf eine motorisierte Ameisenkolonie hinabzublicken. Bis zum Aufschlag würden also wohl einige Minuten vergehen. Minuten der panischen Angst vor dem Unvermeidlichen.

Nun wurde mir doch ein wenig mulmig zumute. Ich entfernte mich soweit wie möglich von dem Gitter. Dort blieb ich stehen, bis wir wieder hinunterfuhren.

Und als ich heute Abend aus dem Fenster unseres YMCA-Zimmers blickte, kam mir der Weg bis nach unten plötzlich gar nicht mehr weit vor.