New York, New York

Perlen von Holstein Folge 64

Oktober 2002

Es hatte mich als Kind immer etwas gewurmt: Hamburg war eine Weltstadt, flughafentechnisch aber in etwa so bedeutend wie ein Dorf mit Schienenbus-Anschluss. Man konnte seine Reise dort starten. Wer jedoch in die weite Welt hinauswollte, musste in Frankfurt, München oder London einen Zwischenstopp einlegen. Ein flugzeugbegeisterter Klassenkamerad hatte neulich gar gespottet: «Ich finde das ja so geil, dass die vor der Landung in Hamburg immer sagen: ‹Wir wünschen ihnen einen angenehmen Aufenthalt oder Weiterflug.› Weiterflug, haha, vom Hamburger Kaff-Flughafen, hahaha!» Der Flug von Hamburg nach New York war laut ihm übrigens kein Lang-, sondern eine Mittelstreckenflug. Eine Direktanbindung gab es dennoch nicht. Wir mussten in London zwischenlanden.

Weiter ging es mit einer Maschine der United Airlines, einer Boeing 777. Sie war deutlich größer als das Flugzeug, mit dem wir damals nach Israel geflogen waren: Es gab zwei Gänge, die die Reihen in drei Dreiersitzgruppen unterteilten. Und der Weg in die Economy Class war weit. Man wunderte sich echt, dass ein solches Ungetüm überhaupt abheben konnte.

Interessanter als die Ausmaße des Flugzeugs war aber seine Ausstattung: Auf der Rückseite der Kopflehnen waren kleine Bildschirme angebracht. Sie luden ein zum Filme sehen. Bild und Ton dieses Bordkinos waren zwar nicht sonderlich beeindruckend, machten die acht Stunden des Eingepferchtseins aber einigermaßen erträglich.

Bei seiner letzten Durchsage vor dem Landeanflug begrüßte der Pilot ganz herzlich die Jungs des New Boys Choir Hamburg. Er wünschte uns viel Erfolg für die uns bevorstehende Tournee. In den Reihen brach Jubel und Applaus aus.

Die Passkontrolle am Flughafen von New York sollte ich gemeinsam mit meiner großen Schwester Annika durchschreiten. Auf dem Weg dorthin wies sie mich kurz ein.

«Okay, Leo, now just keep smiling. If they don’t like you, they don’t let you into their country.»

Beim Check-In am Flughafen von Tel Aviv war damals mein Koffer von einem Sicherheitsbeamten geöffnet worden. Er hatte ihn jedoch nicht durchwühlt, sondern lediglich einige Fragen gestellt. Ob alles noch genauso aussieht wie nach dem Einpacken. Ob mir irgendjemand irgendetwas gegeben und gesagt hat, dass ich es in den Koffer stecken soll. Die Angst vor Anschlägen war groß gewesen.

Das war sie in Amerika seit dem 11. September auch. Es konnte zum Beispiel passieren, dass man die Schuhe ausziehen und auf Messer untersuchen lassen musste.

Jedenfalls erzählten sie das im Fernsehen. Uns geschah nichts dergleichen. Der Mann redete lediglich mit Annika, für mich interessierte er sich überhaupt nicht. Nach einer kurzen Begutachtung unserer Ausweise ließ er uns passieren.

Andere schienen weniger Glück gehabt zu haben. Rund eine halbe Stunde mussten wir in der Ankunftshalle warten, bis alle da waren.

«Mensch, jetzt kenne ich von Amerika tatsächlich schon den Flughafen», sagte ich zu Annika.

Ich versuchte, ernsthaft frustriert darüber zu wirken, dass ich noch nichts von New York gesehen hatte. Dabei war ich nur enttäuscht, dass man nicht bereits hier am Flughafen irgendwo Battlefield 1942 kaufen konnte.

So hatte ich mir Amerika aber nicht vorgestellt!

Der Flughafen lag innerhalb New Yorks, aber in keiner sonderlich städtisch geprägten Gegend. Die ersten Straßen, die unser Reisebus entlangfuhr, wurden von uniformen Holzhäusern gesäumt. Ihre Gärten waren von hohen Zäunen und hohen Hecken umgeben. Eine Stimme in meinem Kopf sang: «Eines schönen Tages reißen wir die Zäune von den großen Gärten ein, lassen alle Kinder rein, das wird fein, das wird fein, das wird fein!»

Ich wusste nicht, was mir das sagen sollte. Viel interessanter als die Zäune waren schließlich die US-Flaggen. In Fenstern, über den Türen, an eigens aufgestellten Masten, überall hingen sie. Ein Anblick, den ich bisher nur aus Filmen gekannt hatte und selbst dort nicht in dieser Heftigkeit.

«Sind die so patriotisch hier?», fragte ich Annika.

«Well, they are. But these flags are here because of Nine Eleven and because it’s New York, where it all happened.»

Wir gelangten in einen dichter bebauten Teil der Stadt. Am Straßenrand parkten mehrere Polizeiautos. Ihre irgendwie altbacken wirkende Aufmachung war mir durch Filme bereits seit frühester Kindheit bestens bekannt. So viele auf einmal von ihnen jedoch sah man eigentlich nur im Killerspiel GTA. Dort fuhren sie einem meist kolonnenweise hinterher, um eines nach dem anderen ins Wasser zu plumpsen, in eine Wand zu rauschen oder in die Luft gesprengt zu werden. Hier aber schwiegen ihre Sirenen. Schade eigentlich, ich hätte sie gerne einmal in Aktion erlebt.

Annika bemerkte meinen Blick.

«‹NYPD›», las sie und erklärte: «New York City Police Department»

Wieder was dazu gelernt. Das meinten die Polizisten in GTA III also, wenn sie brüllten: «This is the L – C – P – D!» Liberty City Police Department. Wobei: Die Bedeutung der ersten drei Buchstaben hatte ich mir schon gedacht, nur beim letzten hatte ich immer gerätselt. Jetzt, wo ich seine Bedeutung kannte, fand ich ihn irgendwie überflüssig.

Endlich erreichten wir Manhattan. Auf seine Wolkenkratzer war ich tatsächlich ein wenig gespannt gewesen. Als Kind hatten sie mich immer sehr interessiert mit ihren dreihundert bis vierhundert Metern Höhe. Was derartige Zahlen bedeuteten, erlebte ich jetzt: Bis zum Himmel ragten die Gebäude. Manche konnte man vom Bus aus nicht einmal zur Hälfte sehen. Das war New York, wie man es aus Filmen konnte, doch ja: Um die Dimensionen dieser Stadt zu begreifen, musste man sie wohl selbst gesehen haben.

Ich konnte mich dennoch nicht überwinden, das jetzt als eines der größten Erlebnisse meines Lebens zu betrachten. Eigentlich empfand ich es sogar als ein ziemlich belangloses. Belanglos wie ein Bad im Toten Meer.

Ich tat dennoch begeistert. Annika erwartete das von mir.

Unsere Unterkunft war ein YMCA. Und damit hatte ich abermals etwas dazugelernt. Ich hatte mich schon häufiger gefragt, was das eigentlich war, was im gleichnamigen Lied besungen wurde. Nun wusste ich es, ein YMCA war eine Jugendherberge. Und das stellte mich vor neue Rätsel. Wieso sangen die: ‹They have everything for young men to enjoy!’ Das war nun wirklich das letzte, was man über Jugendherbergen behaupten konnte. Ich ging deshalb jetzt einfach mal davon aus, dass der Text ironisch gemeint war.

Immerhin: Der Rezeptionsbereich war äußerst repräsentativ, nicht nur die Verhältnisse einer Jugendherberge. Es gab Sofaecken und Internet-PCs; an der holzvertäfelten Wand hing eine Weltzeituhr. Und neben den üblichen Kinder- und Jugendgruppen schienen hier tatsächlich auch Anzugmenschen ein- und auszugehen.

Mit dem Fahrstuhl ging es hinauf in den zehnten Stock. Der schmale Korridor, die uns hier empfing, war schon weit weniger repräsentativ. Seine gelbe Tapete schon gar nicht.

Wir verteilten uns auf unsere Zimmer. Das von Annika und mir war zum Glück nicht weit vom Aufzug entfernt. Hinein gelangte man interessanterweise nicht mit einem Schlüssel, sondern mit einer Magnetkarte.

Der Raum war kaum mehr als ein Fenster breit und seine Einrichtung spartanisch. Es gab einen Wandschrank, einen Tisch mit zwei Stühlen und ein Etagenbett. Der winzige Fernseher wollte nicht so recht ins Schema passen. Vermutlich war so etwas in Amerika selbst in einer Jugendherberge Standard.

Annika und ich verständigten uns darauf, dass sie oben und ich unten schlafen würde, dann gingen wir zum Abendessen.

Als wir wieder da waren, musste sie mir etwas mitteilen.

«Leo, I’m going out with some of the men tonight. It’s just so I get to know them. Tomorrow evening I’ll be with you. Okay?»

«Okay», antwortete ich. Was soll ich auch sonst darauf antworten?

Während Annika auf die Toilette verschwand, zog ich meinen Schlafanzug an. Ein Fehler, wie ich leider erst bemerkte, als es schon zu spät war. In diesem Zimmer gab es kein Waschbecken. Zum Zähneputzen würde ich in den Gemeinschaftswaschraum müssen. Wo sich der befand, erfuhr ich von Annika, die just in diesem Augenblick zurückkehrte.

«Okay, Leo, the lavatory is on the other side of this building, which is really far away. Just follow the signs and you won’t get lost.»

«Ach, Scheiße, ich habe schon meinen Schlafanzug an.»

«Come on, Leo! Everybody has already seen a boy in his pajamas.»

Richtig. Und wie hatte Karla Kolumna es auf einer Bibi-Blocksberg-Kassette so richtig gesagt: ‹Nur keine falsche Scham, Herr Blocksberg! Männer in Schlafanzügen sehen alle gleichermaßen bescheuert aus!›

Doch welche Wahl hatte ich? Ich verließ das sichere Zimmer und trat heraus auf den Korridor. Mir fiel erst jetzt wirklich auf, wie lang er war. Ich tat wohl wirklich besser daran, den Wegweisern zu folgen.

Ich ging den Korridor entlang, bog rechts ab und irgendwann noch einmal links. Tatsächlich, hier hinter einem unscheinbaren Durchgang befand sich der Gemeinschaftswaschraum. Zumindest größentechnisch war er so repräsentativ wie der Rezeptionsbereich. Rund einhundert Waschbecken gab es hier. Ich suchte mir eine stille Ecke und machte mich ans Werk.

Als ich wieder ins Zimmer kam, war Annika bereits in das New Yorker Nachtleben entschwunden. Ich trat ans Fenster und blickte herunter auf die Straße. Bis dort unten war es ein weiter Weg. Trotzdem konnte man das Brummen der Motoren deutlich hören. Mir war das eigentlich ganz recht. So würde ich mir nicht ganz so einsam vorkommen, hier in diesem fremden Zimmer.

Ich legte mich ins Bett, deckte mich zu und schaltete das Licht aus. Dabei versicherte ich mich, dass ich den Schalter auch im Dunkeln würde ertasten können. Ich überlegte, ob ich vielleicht den Fernseher einschalten sollte, ließ es aber bleiben. Ein zum Einschlafen taugliches Programm würde sich um diese Zeit wohl kaum finden lassen. Ich begnügte mich damit, mich weiter auf das Brummen der Motoren zu konzentrieren. Versuchte mir vorzustellen, ich wäre nun da unten bei all den Leuten.

Es gelang mir nicht.

Meine Gedanken kreisten um den Wandschrank. Er stand halboffen. Was oder wer darinnen war, konnte ich aber nicht sehen. Ich blickte in tiefes Schwarz.

Ob ich wohl aufstehen und nachsehen sollte?

Nein, das sollte ich nicht. Verdammt, ich war vierzehn Jahre alt, ich hatte doch keine Angst vor Wandschränken, ich war doch nicht meine kleine Schwester. Die bekam in Räumen mit Wandschränken kein Auge zu. Bei einer Folge X-Factor: Das Unfassbare nämlich war ein Junge spurlos verschwunden, nachdem er in den Wandschrank gesperrt worden war. Seine auf dem Boden liegende Kleidung war alles, was seiner Mutter geblieben war. Meine Schwester hatte das in Angst und Schrecken versetzt. Besonders, weil sich am Ende herausgestellt hatte: Die Geschichte hatte auf einer wahren Begebenheit basiert.

Zugegeben: Auch ich fand X-Factor: Das Unfassbare manchmal ganz schön gruselig. In einer Folge zum Beispiel verschwand ein Familienvater eines Nachts spurlos. Seine Tochter fand ihn schließlich wieder – in ihrer Puppenstube.

Andere Episoden wiederum waren zum Schreien komisch. Etwa die, in der ein Jugendlicher davon träumte, dass er am nächsten Tag einen Sportwagen zum Vorzugspreis erhalten würde. Eine Stimme sagte: «Du willst einen Wagen, mein Freund? Nun, dieses Schmuckstück kostet nur einen Dollar, nur einen Dollar – Das ist keine Anzahlung, kein Leasing-Vertrag, nichts dergleichen! Es kostet nur einen Dollar, einen Dollar, einen Dollar, einen Dollar –»

Ich überlegte, warum dieser Satz sich so tief in mein Gedächtnis eingebrannt hatte. Womöglich lag es daran, dass die Folge im Hintergrund gelaufen war, während ich das Killerspiel Empire Earth gespielt hatte. Ich hatte als Alexander der Große Tyros erobert. Eine zeitaufwendige und doch unterhaltsame Unternehmung. Erst hatte ich die Stadt von See aus sturmreif geschossen und sie dann von Land im Handstreich eingenommen.

Ja, Empire Earth war schon ein tolles Spiel. Doch Battlefield 1942 würde viel besser sein. Wie freute ich mich schon darauf, seine amerikanische Originalversion in den Händen zu halten. Heute war keine Zeit gewesen, loszuziehen und es zu kaufen. Doch schon bald würde es mir gehören.

Für weit mehr als einen Dollar.