Sternstunden durch Volksmusik

Perlen von Holstein Folge 59

Januar 2002

Bei den Chorproben – zumindest bei den Knabenproben – ging es derzeit zu wie damals im Sexualkunde-Unterricht.

«‹Ich hör ein süß Getöne› Haha, was für ein Getöne denn?», sagte einer.

Er erntete ohrenbetäubende Kichersalven.

Das stachelte ihn dazu an, noch einen draufzulegen.

«‹Wach auf, mein Lieb, und mach dich frei!›»

Der Orgie, die er damit auslöste, stand auch eine Frau Siebenkittel für einige Sekunden etwas hilflos gegenüber. Dann aber hob sie energisch die Arme. Sofort kehrte etwas Ruhe ein.

Wach auf meins Herzens Schöne hieß das Stück, das wir probten. Es war Teil eines Volksmusik-Programms, das wir bei Sonntakte singen sollten. Das war eine Radiosendung des NDRs. Sie war mir dank aggressiver Marketings bereits ein Begriff. In allen S- und U-Bahnstationen Hamburgs hingen kleine Plakate. Ins Bewusstsein gedrungen waren mir diese allerdings wohl nur, weil Sonntakte ein so selten dämlicher Name war.

Wenn alle Brünnlein fließen sorgte ebenso regelmäßig für Heiterkeit. Verantwortlich zeichnete sich dafür die zweite Strophe: ‹Ja, winken mit den Äugelein und treten auf den Fuß. S’ist eine in der Stube drin, die meine werden muss.›

Frau Siebenkittel hatte bereits erklärt, dass das eben nicht bedeutete, dass hier jemand seiner Liebsten auf die Füße treten wollte. Gemeint war vielmehr füßeln, also einander unter dem Tisch mit den Füßen berühren. Dort konnte ihr Vater es nämlich nicht sehen. Es war auf gut Deutsch etwas, das nur Leute in bescheuerten Volksliedern taten. Und über Dinge, die Leute nur in bescheuerten Volksliedern taten, lachte man eben.

Wobei ich zugeben musste, dass die Melodie etwas hatte, besonders im Zusammenspiel mit dem Text der vierten Strophe: ‹Sie hat zwei rote Wängelein, sind röter als der Wein. Ein solches Mädel findst du nicht wohl unterm Sonnenschein.› Das rief mir die Bilder einer ländlichen Idylle im Abendrot in den Kopf. Er und sie saßen eng umschlungen auf einem Strohballen und sahen der Sonne beim Untergehen zu. Um sie herum spielten Kinder. So sah sie meist aus, die erste Station des Fantasy-Killerspiels The Legend of Shaismonthos, bevor es in verwunschene Wälder, in gefährliche Katakomben und schließlich das Herz der Finsternis ging.

Frau Siebenkittels JFS weckte dagegen ganz andere Assoziationen. Eigentlich stand das für Jeder für sich und bedeutete, dass wir uns im Raum verteilen und das Lied alle in einem unterschiedlichen Tempo singen sollten. Wenn alle Brünnlein fließen schien sich für dafür gut zu eignen. Die Faszination unserer Chorleiterin für den dabei entstehenden Klang konnte ich irgendwie nicht teilen. Ich dachte daher lieber an JSF – Joint Strike Fighter aus der Killerspiel-Sammlung Gold Games 3. Gespielt hatte ich es nur ein einziges Mal und sonderlich gefallen hatte es mir nicht. Aber der Name war irgendwie toll: Joint Strike Fighter.

Das Studiogelände des NDRs lag gerade einmal einen Häuserblock von der Jugendmusikschule entfernt, direkt am U-Bahnhof Hallerstraße. Sonntakte entpuppte sich als ein rund fünfstündiger Show-Marathon mit Live-Publikum, der nachträglich – und wahrscheinlich schon währenddessen – zu einer exakt zweistündigen Radiosendung zusammengeschnitten wurde. Meine Befürchtungen, wir könnten eine ähnliche Tortur durchmachen müssen wie damals bei drehscheibe Deutschland, hatten sich als unbegründet erwiesen. Das hier war nichts weiter als ein Konzert mit Mikrofonen, das in einem Raum stattfand, dessen Bestuhlung an einen Hörsaal erinnerte.

Außerdem durfte das Publikum mitsingen. Natürlich nur ausgewählte Stücke, unter anderem nicht die, die wir für diesen Tag einstudiert hatten.

Eine Moderatorin sang vor: «Himmel und E-erde müssen vergeh’n, aber die Musici, aber die Musici, aber die Musici bleiben besteh’n!»

Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Das Lied hatten wir eine Zeit lang in der Schule gesungen. Über den vollkommen behämmerten Text, vor allem aber über die Wortschöpfung Musici, hatten wir uns jedes Mal krankgelacht. Wohl deshalb hatte unser Lehrer uns die zweite Hälfte vorenthalten. Die schoss nämlich in der Tat den Vogel ab.

«‹Heut kommt der Hans zu mir›, freut sich die Lies. Ob er aber über Oberammergau oder aber über Unterammergau oder aber überhaupt nicht kommt, ist nicht gewiss.»

Wir sangen begeistert mit. Schnell hatte sich eine milde Volksfeststimmung breitgemacht. Wie gerne hätte manch einer wohl beim Nebenmann eingehakt und geschunkelt. Die Gegenwart Frau Siebenkittels verhinderte dies.

«Da hat Opa Max sich ja schon immer drüber lustig gemacht: dass die Lies sich freut, obwohl sie gar nicht weiß, ob der Hans wirklich kommt», sagte meine Mutter nach dem Konzert.

Nicht nur Opa Max.