Angeeigneter Sinn für Show

Perlen von Holstein Folge 58

Dezember 2001

Jannik musste dieses Jahr in Tabea machen, was alle Neuen in Tabea machen mussten: Einmal für das Publikum aufstehen. Und ich musste dieses Jahr in Tabea machen, was alle großen Brüder von Neuen in Tabea machen mussten: Einmal für das Publikum aufstehen.

Ich tat es tatsächlich.

Zu meinem eigenen großen Erstaunen. Für gewöhnlich leugnete ich meinen kleinen Bruder ja sogar dann, wenn wir mit der ganzen Familie in Bayern waren. Gleichaltrige, vor denen er mich hätte blamieren können, gab es dort nicht. Und selbst wenn es sie gegeben hätte: Die Chancen auf ein Wiedersehen waren gleich Null. Zum Leugnen bestand überhaupt kein Anlass. Ich tat es dennoch. Alleine schon aus Prinzip.

Heute aber stand ich zu meinem kleinen Bruder.

Man hätte nun damit argumentieren können, dass wohl auch komisch aussehen würde, wenn weniger Neue als große Brüder aufstünden. Doch würde im Publikum wohl kaum einer nachzählen. Die meisten waren dazu längst nicht mehr im Stande.

Es war auch nicht die Anwesenheit Frau Siebenkittels, die mich so reif handeln ließ. Zum einen hatte sie mich nicht direkt zum Aufstehen aufgefordert, zum anderen wäre es ihr wohl auch egal gewesen, wenn ich es nicht getan hätte. Sie dürfte ja längst gemerkt haben, dass Jannik und ich uns nicht viel zu sagen hatten.

Der Grund für mein Tun war wohl ein ganz einfacher: Der Sinn für Show, den ich mir in all den Jahren in Tabea angeeignet hatte. Die Omis wollten heile Welt und es fiel schwer, ihnen diesen Wunsch abzuschlagen, so reich wie sie einen beschenkten.

Meine Mutter hieß es nach dem Konzert ausdrücklich gut, dass ich aufgestanden war. Das war es aber auch mit dem Lohn. Vom Heim gab es dieses Jahr nur ein olles Marzipanbrot. Ein Marzipanbrot, waren die noch zu retten? Ich fand Marzipan einfach widerwärtig und konnte mir auch keinen Unterfünfzigjährigen vorstellen, der das nicht tat. Waren denen die Riesen-Schokoladen-Weihnachtsmänner ausgegangen?

Solcherlei Enttäuschungen würden mir in Albertinen erspart bleiben. Dort hatte man uns seit jeher mit einem kleinen Schokoladen-Weihnachtsmann und einem Keksbuffet abgespeist. Als würde sich das noch unterbieten lassen!

Bezeichnenderweise waren die Konzerte hier auch längst nicht so berüchtigt wie die in Tabea. Geschichtsträchtiges hatte sich in dem schuhkartonförmigen Veranstaltungsraum bisher nie ereignet. Das sollte sich dieses Jahr ändern.

Christopher sang das Mariä Wiegenlied. Wir mussten dabei stehen. Das war der Länge des Liedes und der Beschaffenheit des Raumes geschuldet. Zwei Minuten rechtfertigten es nicht, dass wir alle von der Bühne gingen. Sie wären mir aber auch im Sitzen endlos vorgekommen. Ich hasste das Mariä Wiegenlied.

Das hatte rein gar nichts damit zu tun, dass Christopher es sang. Ich hatte es auch schon gehasst, als es noch von Benedict und später Vinzent gesungen worden war. Zudem bewies Ich steh an deiner Krippen hier, dass man ein Stück auch mögen konnte, obwohl man denjenigen kannte, der es sang.

Das war wirklich ein tolles Lied. Hervorragend geeignet, um auf einer CD als vorletzter Track zum Einsatz zu kommen. Kurz vor Schluss waren ein wenig Ernst und Tiefsinnigkeit schließlich immer willkommen.

Und Ernst und Tiefsinnigkeit bot Ich steh an deiner Krippen hier zuhauf. Besonders die Passage ‹Ich lag in tiefster Todesnacht› hatte es mir angetan. Ich sah dabei den Komponisten in einer schwach ausgeleuchteten Rumpelkammer von Zimmer alleine auf dem Bett liegen. Eine schwach ausgeleuchtete Rumpelkammer von Zimmer, die dem meinen so ähnlich war, wie nur je etwas. Nur waren die Wände aus Holz, wie das vor Hunderten von Jahren ja so üblich gewesen war. Außerdem hatte er wie in dem Fantasy-Killerspiel The Legend of Shaismonthos an der Wand über dem Bett ein Schwert hängen, so etwas gab es heute ja auch nicht mehr. Kurzum: Ein Lied, das ich immer wieder gerne hörte und für das ich auch bereitwillig stand.

Zum Mariä Wiegenlied blieb dagegen nur zu sagen: Gierig, gieriger, am gierigsten. Ich konnte ja schon froh sein, dass wir heute nicht in einer Kirche auftraten. Das groteske Wechselspiel zwischen hellem Knabensopran und wummernder Instrumentalbegleitung kam mit einer Orgel ja erst so richtig zur Geltung. Dazu kam, dass mich mal interessiert hätte, was das Lied überhaupt bei einem Weihnachtskonzert zu suchen hatte. Es hieß darin doch ausdrücklich: ‹durch die Blätter leise weht der warme Sommerwind›. Wobei es andererseits ganz gut war, das Lied nicht auch noch die anderen zehn Monate des Jahres ertragen zu müssen.

Ich war denkbar froh, als Christopher langsam zum Ende kam.

«Schla-a-a-a-af Kindlein, sü-üße», sang er, «schla-a-af nur ein!»

Just in diesem Augenblick erlitt ein Knabe in der ersten Reihe einen Schwächeanfall. Seine beiden Nebenmänner reagierten blitzschnell. Sie packten ihn den Schultern und verhinderten so, dass er stürzte. Marc und ein anderer Mann eilten nach vorne. Der sprach kurz mit dem Jungen, der das Bewusstsein inzwischen wiedererlangt hatte. Als klar war, dass er den Rest des Konzertes wohl nicht mehr durchstehen würde, brachten sie ihn nach draußen.

Während das geschah, trat Frau Siebenkittel ans Mikrofon. Souverän bewies sie nun den Sinn für Show, den sie sich in den all den Jahrzehnten angeeignet hatte.

«Da ist der Jannis ja wirklich genau im richtigen Moment zusammengebrochen, bei ‹schlaf nur ein›», sagte sie.

Das Publikum lachte. Eine denkbar heikle Situation war gelöst.