Unerhört durchsetzungsfähig

Perlen von Holstein Folge 54

Juni 2001

Es war überstanden. Nie wieder würden wir neben den Trommlern von der Musiktherapie proben müssen. Donnerstags waren wir jetzt im Kleinen Studiosaal und Dienstags sogar im Großen. Wem wir das zu verdanken hatten, ob nun Marc, Frau Siebenkittel oder gar Herrn Sobirey, wir wussten es nicht. Es war auch egal. Die Hauptsache war, dass wir errettet worden waren. Errettet aus dem Kabuff. Der Große Studiosaal war nicht so groß wie die Aula der Handelsschule Kellinghusenstraße, aber weiß Gott groß genug.

Zudem war sein Standort ziemlich prominent. Man begegnete in seinem Umfeld allerhand Leuten, deren Gesichter man sich nicht merkte und die einem deshalb immer unbekannt erschienen. Umgekehrt bekamen nun Menschen von unserer Existenz mit, die vorher gar nicht um sie gewusst hatten.

Zu ihnen zählte wahrscheinlich auch jene Mutti, die irgendwann mitten in der Probe ihren Kopf hereinsteckte. Sie schenkte uns Knaben ihr wärmstes Lächeln.

Frau Siebenkittel machte kurzen Prozess.

«Das ist jetzt schon das sechste Mal, dass das heute passiert! Und das soll ich jetzt noch gut finden?»

Das wärmste Lächeln wich einem Ausdruck von tiefer Reue. Die Mutti schien zwar nicht ganz zu wissen, was sie falsch gemacht hatte. Dennoch trat sie den Rückzug an. Dabei schloss sie die Tür so lautlos wie möglich.

Schallendes Gelächter erfüllte den Saal. Frau Siebenkittel, selbst erschrocken über ihre Worte und deren Wirkung, wedelte mit der rechten Hand.

«Hoppla», sagte sie.

Das Gelächter wurde lauter. Auch unsere Chorleiterin lachte nun.

Als hätte sie nicht ganz genau gewusst, dass die Menschen ihr alles glaubten. Erst neulich hatte sie uns doch mit Stolz von einem Beweis dafür erzählt.

«Wisst ihr eigentlich schon, was neulich passiert ist? Also, es war Konzertabend der Jugend-Musiziert-Preisträger und einer von den Männern – ein schon lange Ehemaliger, den kennt ihr nicht – sollte da halt auftreten. Und ich sitz da und er kommt und kommt nicht und ich werd’ natürlich langsam nervös. Und irgendwann denk ich: Das kann doch nicht sein, dass der bei so ’nem wichtigen Auftritt so viel Verspätung hat. Und dann rief ich ihn an, ja, und er meinte dann nur ganz erschrocken: ‹Oh, tut mir Leid, Brigitte, das habe ich wirklich völlig vergessen. Ich bin im Baumarkt!›»

Bei dem Wort Baumarkt hatte sie eine Miene gemacht, als wenn es um etwas noch weit Irdischeres gehen würde.

«Naja», hatte sie fortgefahren, «dann saß ich da und überlegte: Das kannst du denen hier doch jetzt nicht erzählen, dass er nicht kommen kann, weil er im Baumarkt ist. Und dann bin ich zu den Verantwortlichen hingegangen und habe gesagt: ‹Ja, es tut mir ganz schrecklich leid, er kann nicht kommen, er hatte auf dem Weg hierher einen Auffahrunfall.› Und die haben das nicht nur geglaubt, die waren ganz aufgewühlt und haben dann sogar noch eine Ansage für ihn gemacht und ihm gute Besserung und alles gewünscht. Ist das nicht klasse?»

Ja, doch, das war es. Frau Siebenkittel konnte sagen, was sie wollte, jeder nahm ihre Worte für bare Münze. Das war klasse. Prinzipiell. Das Problem war nämlich: Man selbst tat das ebenso, auch wenn man sie schon seit ewigen Jahren kannte. Das galt insbesondere, wenn sie in der Probe die Beherrschung verlor und Dinge sagte, die zu sagen nicht nett war. So geschehen zwei Wochen nach dem Vorfall mit der Mutti.

Wir probten Wohl mir, dass ich Jesum habe. Ich dachte an nichts Böses – das konnte man bei dem Stück nicht – als Frau Siebenkittel urplötzlich die Hände fallen ließ.

Sie hechtete auf mich zu und schrie in den ersterbenden Gesang hinein: «Lenni-Löwe, du kannst echt nach Hause gehen und deiner Mutter sagen: Dass sie fünf Jahre lang das Geld für den Chor aus dem Fenster geschmissen hat! Weil du immer noch nicht den Mund aufmachst!»

Sie wartete nicht auf eine Erwiderung, sondern probte einfach weiter. Sie wusste, was besser für sie war. Lenni-Löwe schäumte vor Wut. Nicht mehr viel fehlte und er würde nach Hause gehen und es seiner Mutter sagen: ‹Mama, du hast fünf Jahre lang das Geld für den Chor aus dem Fenster geschmissen, ich mache immer noch nicht den Mund auf.›

Mich hätte wirklich einmal interessiert, wie die darauf reagiert hätte. Vielleicht erkannte sie ja, dass es sinnlos war, nahm mich aus dem Chor heraus und ich hätte endlich mehr Zeit für meine Killerspiele.

Nein, das würde natürlich als allerletztes passieren. Höchstwahrscheinlich würde meine Mutter einfach lachen. Denn, nun ja: Wenn man nicht selbst derjenige war, der sie sich anhören musste, war diese Äußerung ziemlich komisch.

Ich ließ es also bleiben und begnügte mich damit, bis auf Weiteres nicht gut auf unsere Chorleiterin zu sprechen zu sein. Das würde sie wahrscheinlich nicht einmal bemerken, doch welche Wahl blieb mir?

Einige Wochen vergingen. Ich bemühte mich nach Kräften, nicht gut auf Frau Siebenkittel zu sprechen zu sein, sie bemerkte es nicht. Wie ich es vorausgesehen hatte. Ich war dennoch entschlossen.

Dann war er da, der erste Tag, an dem ich als Brillenträger zur Probe kommen musste. Überfälligerweise, wie bemerkt werden muss. Rund eineinhalb Jahre war es her, dass ich meine Kurzsichtigkeit bemerkt hatte.

Ich hatte in der dritten Reihe gesessen und einfach nicht erkennen können, was unser Lehrer an die Tafel schrieb. Das hatte ich meiner Mutter aber nicht gesagt, denn ich wusste, was die Folge sein würde: Ich würde eine Brille tragen müssen. Das wollte ich nicht, das war peinlich. Und uncool.

Sie hatte es dann irgendwann natürlich doch gemerkt, war mit mir zum Augenarzt und zu Fielmann gegangen. Und ehe ich’s mich versehen hatte, hatte ich eine Brille gehabt. Ich war begeistert von ihr gewesen und hatte sie gleich gar nicht mehr abnehmen wollen. Es war so unglaublich faszinierend, den Menschen auf den Kopf zu sehen und jedes einzelne Haar erkennen zu können. Und wie kräftig die Farben plötzlich leuchteten.

Meine Umwelt hatte freilich bisher eher ablehnend auf meine Sehhilfe reagiert.

«Kein Plan, Alter, kein Plan», hatte ein Klassenkamerad bei ihrem Anblick gesagt.

«Kein Plan von was?», hatte ich gefragt.

«Von der Welt!»

Er hatte sich dabei wohl auf das Modell bezogen. Ich hatte die Wahl gehabt und mich für eine schwarze Hornbrille entschieden. Sie war das einzige von den Nulltarif-Gestellen gewesen, das mir wirklich gestanden hatte, fand ich.

Eine Meinung, mit der ich ziemlich alleine dagestanden hatte. Bis zur heutigen Probe. Frau Siebenkittel war verzückt.

«Mensch, Lenni-Löwe, das finde ich ja mal echt chic, dass du jetzt eine Brille trägst! Und die passt auch ganz doll zu dir, gibt deinem hellen Gesicht einen guten Kontrast!», sagte sie.

Gleiches teilte sie meiner Mutter am Abend noch einmal per Fax mit. Ich hängte dem Antwortschreiben folgenden Dialog an: «‹Sag mal: Wenn du dein Leben noch einmal leben könntest, würdest du alles noch mal genauso machen?› – ‹Hm, nicht ganz. Ich würde von Anfang an meine Brillen bei Fielmann kaufen.›»

Der Werbespot, dem das entnommen war, fand bei meinen Klassenkameraden und mir kaum Beachtung. Es war so überhaupt nichts Bescheuertes an ihm. Keine Musik und keine Versuche, cool oder hart zu wirken. Mit anderen Worten: Entsetzlich langweilig.

Frau Siebenkittel spielte den Ball dennoch nur zu gern zurück: «Und ich würde von Anfang an im Chor stehen. Und wenn nicht im Chor, dann vorm Chor!»

Ich schmunzelte. Aller Ärger war vergessen. Wir waren wieder Freunde.