De profundis

Perlen von Holstein Folge 52

März 2001

Die Türen schlossen sich, der Zug setzte sich in Bewegung. Hinein ging es in das Dunkel des Tunnels der Hamburger City-S-Bahn. Er lag in weiter Tiefe. Das musste so sein, denn darüber befand sich die Binnenalster. Mein Vater hatte mir einmal erzählt, dass man für seinen Bau spezielle Tunnelbohrmaschinen benötigt hatte. Einige Stationen waren aufgrund ihrer Eignung hierfür so konstruiert worden, dass sie zu Atombunkern umfunktioniert werden konnten.

Ich mochte den Tunnel. Er hatte seine ganz eigene Atmosphäre. Man spürte irgendwie, dass man sich ungewöhnlich tief unter der Erde befand. Woran das lag, konnte ich nicht sagen. Es war eigentlich nicht wesentlich dunkler als in anderen S- oder U-Bahn-Tunneln auch.

Ein entscheidender Nachteil des Tunnels war jedoch seine Länge. Die andauernde Schwärze machte einen schläfrig. Ich nickte häufiger mal ein. Neulich hatte ich deswegen meine Umsteigehaltestelle Jungfernsteig verpasst und zurückfahren müssen. Ich war seit einiger Zeit aber auch recht anfällig für nachmittägliche Müdigkeitsattacken geworden. Frau Siebenkittel hatte mich sogar einmal dabei erwischt, wie ich während der Probe aus dem Sekundenschlaf hochgeschreckt war. Ich hatte mit der Schelte meines Lebens gerechnet. Sie hatte mich jedoch mit einem milden Lächeln bedacht und weitergeprobt.

Der Grund für meine Schläfrigkeit war ein denkbar einfacher: Ich ging spät ins Bett. Um halb eins, um genau zu sein. Das lag zum einen daran, dass ich vorher sowieso nicht einschlafen konnte – abends war ich grundsätzlich hellwach. Zum anderen fand ich nur so ausreichend Zeit für meine Killerspiele. Ich verbrachte diese Minuten ja nicht in der S-Bahn, weil ich das wollte, sondern weil ich es musste.

Seit Dezember hatte ich Klarinettenunterricht. Für meine Mutter war damit ein Traum in Erfüllung gegangen. Sie liebte das Instrument abgöttisch. Bereits Anfang der dritten Klasse hatte sie mich auf die Warteliste dafür setzen lassen, in der Erwartung, dass ich dann in der fünften meinen Platz bekommen würde. Das war aber nicht passiert. So hatte sie sich bald gezwungen gesehen, das Hamburger Abendblatt einzuschalten.

Der Vorteil des Klarinettenunterrichts war, dass ich nun keinen Flötenunterricht mehr hatte. Der Nachteil war, dass er im Gegensatz zu jenem nicht in Finkenwerder angeboten wurde. Ich musste dafür jede Woche nach Hamburg-Bahrenfeld fahren.

Damit mein völlig überfüllter Wochenplan das überhaupt zuließ, hatte meine Mutter den Unterrichtstermin auf den früher Donnerstagnachmittag legen lassen. So fuhr ich jetzt einmal in der Woche von der Schule direkt zum Klarinettenunterricht und von dort dann zum Chor. Gegessen wurde irgendwo unterwegs.

Die Fahrt durch den Tunnel war Bestandteil der Route Klarinettenunterricht – Chor. Sie war eine Pflicht, aber eine der ich gerne nachkam. Es war irgendwie schön, in das Dunkel zu blicken, den elektronischen Stationsansagen zu lauschen und das Silbergrau der Decke auf sich wirken zu lassen. Man konnte sich ein wenig wie in dem Hightech-Forschungskomplex eines Killerspiels, irgendwo in der Wüste Nevadas, fühlen. Das, was mich an der Oberfläche erwartete, schien endlos weit weg zu sein.

In der Jugendmusikschule angekommen, nahm ich Platz auf der Pythagoreischen Treppe. Ich war zunächst der einzige Knabe hier, doch das blieb ich nicht lange. Rasch hatte sich das Foyer gefüllt. Zu den Ankömmlingen zählte auch Max-Frederick. Sein schelmisches Grinsen in meine Richtig ließ mich bereits Böses ahnen. Tatsächlich ließ er es sich nicht nehmen, sich neben mich zu setzen. Das konnte ja heiter werden.

Ich kannte Max-Frederick seit dem Vorchor. Er hatte sich häufig einen brillenförmigen Draht über die Nasenspitze gestülpt und gesagt: «Guck mal, Lenni-Löwe, ich bin der Professor.» Und wenn wir Nicht lange mehr ist Winter gesungen hatten, hatten er und sein kleiner Bruder Frans nach jedem Durchlauf «Nochmal!» gerufen. Mit dem damaligen Max-Frederick hatte der heutige aber nur noch höchst wenig gemeinsam.

«Na, Lenni-Löwe!», sagte er. Dabei legte er mir scheinbar kumpelhaft den Arm auf den Rücken.

Ich kratzte mir mit in seine Richtung gestrecktem Mittelfinger die Wange.

«Ey, Lenni-Löwe, das geht aber so», sagte er. Er rieb sich mit in meine Richtung gestreckten Mittelfinger das Auge.

Dann stand er auf und gesellte sich zu den anderen Altisten.

In der Probe aber trieb er weiter seine, inzwischen altvertrauten, Späße mit mir. Einer davon war, dass er sich hinter mich setzte und mir seine Hand zwischen Rücken und Stuhllehne schob. Ich reagierte darauf in ebenfalls altvertrauter Weise. Ich lehnte mich mit voller Kraft dagegen. Dafür erntete ich jedoch nur Johlen und Kichern.

Es war nicht zu leugnen: Hier im Chor stand ich am unteren Ende der Nahrungskette. Wenn ich da an die Schule dachte.

Dort war ich gestern vor der Turnhalle mit einem freundlichen Grinsen begrüßt worden.

«Ey, Lennart, kennst du die Werbung: ‹So gründlich und so scharf, dass er hinter Gitter muss!›?»

Die mit dem halbnackten Mann, der im Gang eines Raumschiffes von einem schwarzen Panther angesprungen und im letzten Augenblick durch Gitterstäbe gerettet wurde, die plötzlich aus dem Nichts erschienen? Oh ja, die kannte ich. Sie warb für irgendeinen Nassrasierer.

«Haha, natürlich! Die ist echt so bescheuert!», hatte ich geantwortet. Wir waren in wildes Gelächter ausgebrochen.

Es gab auf dieser Welt doch nichts Lustigeres als Werbespots. Was die Leute dahinter sich immer einfallen ließen, um einem den letzten überflüssigen Krempel als die Lösung aller Menschheitsprobleme zu verkaufen. Es war einfach zu komisch.

Am besten gefielen mir die Barbie-Werbungen. Jeden Monat gab es neue befremdliche Produktvariationen. Jeden Monat gab es neue bescheuerte Lieder. Unangefochten auf Platz rangierte bei uns gegenwärtig die Komposition zu Wasserstern-Barbie.

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Wir sangen es in fast jeder Pause und führten zu den Worten ‹Sterne da› einen imaginären Schlag ins Gesicht aus.

Mein Kamerad hatte aber über Werbung für Erwachsene reden wollen, da hatte ich jetzt schwer davon anfangen können. So hatten wir uns zum sicher zwanzigsten Male über den General-Bergfrühling-Spot lustig gemacht.

«So viel Schmutz, ein normales Reinigungsmittel hilft da nicht. Jetzt brauche ich Kraft, Kraft, Tiefenkraft!»

Beim Lachen darüber war mir plötzlich ein Aspekt an der Werbung eingefallen, dem wir bisher noch gar keine Beachtung geschenkt hatten.

«Ey, ist dir eigentlich schon mal aufgefallen, dieses Lied, das da immer im Hintergrund kommt?»

Ich hatte es ihm vorgesungen, nicht ahnend, welche Wirkung es auf uns beide haben würde.

Die folgende Viertelstunde hatten wir liegend in der Mitte des Hallenbodens zugebracht. Wir waren vor Lachen nicht in der Lage gewesen, uns von hier wegzubewegen. Jedes Mal, wenn sich einer von uns so weit gefangen hatte, dass er wieder halbwegs sprechen konnte, hatte er erneut das Lied angesungen. Weiter als zum dritten Ton war er jedoch nicht gekommen. Dann war der Lachanfall in voller Stärke zurückgekehrt.

Unser Sportlehrer hatte gar nicht erst versucht, uns zur Räson zu bringen. Er hatte den Unterricht kurzerhand um uns herum stattfinden lassen.

Was für ein Fest.

Später, wir hatten uns mittlerweile einigermaßen beruhigt, hatte ich das Lied mit einem Text unterlegt. Er hatte nachvollziehbar machen sollen, was wir an diesen Tönen eigentlich so komisch gefunden hatten.

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Danach war große Pause gewesen. Wir hatten sie mit einigen anderen Kameraden vor dem Klassencomputer verbracht. Eine denkbar betagte Kiste, die noch mit Windows 3.1 lief. Außerdem waren auf ihr einige Killerspiele installiert, unter anderem Grand Prix Circuit. Es war seit Wochen der Renner. Wir spielten es jedoch meist ohne ernsthafte Ambitionen, zu gewinnen. Uns stand der Sinn nach Unfug.

So auch heute. Ein Kamerad war von der Strecke abgefahren und hatte Kurs auf die Zuschauertribüne genommen. Diese war jedoch nicht näher gekommen. Stattdessen war er nach mehrminütiger Irrfahrt gegen eine weiße Wand geprallt.

In einem gespielten Wutausbruch hatte er gegen das Computergehäuse getreten. Wir hatten dazu die Titelmelodie des Spiels gegrölt.

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Max-Frederick schob mir wieder seine Hand zwischen Rücken und Stuhllehne. Wieder lehnte ich mich mit voller Kraft dagegen. Dieses Mal winkelte ich jedoch meinen Rücken so an, dass seine Fingerknöchel gegen die Lehnenkante gedrückt wurden. Das wirkte. Einen Schmerzlaut von sich gebend zog er seine Hand zurück.

Den Rest der Probe hatte ich Ruhe.

Es war ein kurzer Sieg. Max-Frederick würde wiederkommen, vermutlich mit irgendeiner anderen Schelmerei.

Was er wohl denken würde, wenn er mich mal mit meinen Klassenkameraden sah? Und was sie wohl denken würden, wenn sie mich mal im Chor sahen?