Zwei Welten

Perlen von Holstein Folge 49

November 2000

Dieser Freitag begann wie jeder Freitag mit einer Doppelstunde Kunst. Damit standen uns neunzig Minuten astreinen Entertainments bevor. Unsere Kunstlehrerin nämlich war selbst für die Maßstäbe ihres Berufsstands speziell. Man brauchte sich bei ihr zum Beispiel nie Sorgen zu machen, ob man mit seinem Bild auch fertig wurde. Sie kam sowieso jede Woche mit etwas völlig Neuem an. Legendär war ihr Ausspruch vor der Klasse meiner großen Schwester. Als dort eine verbale Auseinandersetzung etwas ausgeartet war, hatte sie erklärt: «Seid doch nicht so grob! Sagt doch lieber: ‹Du schiefes Haus›, oder: ‹Du krummer Baum›, oder: ‹Du falsch gebaute Turnhalle›. Das ist doch schon schlimm genug.»

Eine eher lästige Eigenart von ihr war, dass sie Zuspätkommenden den Zutritt zum Kunstraum verwehrte. Andererseits: So brauchte man sich wenigstens nicht unnötig zu hetzen. Ein Kamerad und ich nutzten die Gelegenheit, ein wenig im Klassenzimmer zu verweilen. Wir hatten es ganz für uns alleine. Aus einer Laune heraus begannen wir, ein Lied zu improvisieren. Ich sang und er trommelte dazu mit dem Klassenbuch aufs Lehrerpult.

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Maschen und sein Probensaal erschienen weit weg. Dabei würde ich in nicht einmal zehn Stunden genau dort sitzen. Man brauchte mit dem Auto von Finkenwerder gerade einmal eine halbe Stunde, um dorthin zugelangen. Und war man angekommen, musste man sich nur hundert Meter vom Heim entfernen, um auf die Skyline von Hamburg blicken zu können.

Und doch: Wenn man da war, war es, als würde man nie wieder von dort wegkommen. Maschen gab einem das Gefühl, an einem völlig anderen Ort, in einer völlig anderen Zeit zu sein.

Es lag nicht einmal nur daran, dass das Haus im Wald lag. Das Haus selbst war einfach so ganz und gar altmodisch. Wenn man alleine die Polstergarnitur im Speisesaal sah. Es fehlte wirklich nur noch, dass irgendwo die Vitrine mit dem guten Porzellan herumstand, das Großeltern-Ambiente wäre perfekt gewesen. Dazu kam die fast vollständige Abwesenheit von Technologie. Im Keller gab es zusätzlich zum Cola-Automaten einen Fernseher. Dann meinte ich, im Büro des Herbergsvaters mal so etwas wie einen Computer erspäht zu haben. Darüber hinaus war alles, was man auf dem Chorwochenende an Bildschirmen und Lautsprechern antraf, Eigentum des jeweiligen Sängers.

Der Abend war gekommen, pünktlich zum Essen trafen wir in Maschen ein. Und, was sollte ich sagen: Die Doppelstunde Kunst heute Morgen schien Wochen her zu sein. Mein Blick fiel auf die Prospektauslage zwischen Speisesaal und Treppenhaus. Dort, zwischen Provinzbus-Fahrplänen und Karten mit Fahrradausflugszielen, lagen massenweise Sonderausgaben des Hamburger Abendblattes. Sie berichteten vom fünfundzwanzigjährigen Jubiläum der Köhlbrandbrücke. Es war ein großes Ereignis gewesen.

Sie hatten die Brücke einen Tag lang für Fußgänger freigegeben. Ich war zum höchsten Punkt gelaufen und hatte einen Flieger über die Brüstung geworfen. Leider hatte ich die falsche Seite erwischt, sodass der Wind ihn wieder zurückgeblasen hatte. Ein paar Jugendliche hatten ihn gegriffen und ihn von der anderen Seite erneut starten lassen. Nach einem kurzen Steilflug war er ganz langsam nach unten gesegelt. Bestimmt eine Viertelstunde hatte es gedauert, bis er in den Fluten er Elbe versunken war. Ja, das Jubiläum war wirklich ein großes Ereignis gewesen. Damals vor eineinhalb Jahren.

Bei der Zimmerverteilung hielt ich mich zurück. Ich wollte nicht am Ende mit Philipp oder Christophers Digimon-Ball in einem Raum schlafen müssen. So bekam ich, was übrig blieb. Übrig blieb Georg, ein Knabe, der noch kleiner war als Philipp. Übrig geblieben war er, weil es augenscheinlich sein erstes Mal Maschen war. Nun ja, da hatten wir alle einmal durchgemusst. Ich nahm den Schlüssel vom Tablett und machte mich auf den Weg. Georg folgte mir stumm.

Wir hatten ein winziges Doppelzimmer am anderen Ende des Heimes zugewiesen bekommen. Dort angekommen, warf ich zunächst meinen Rucksack auf das untere Bett. Dann kramte ich die Computer Bild Spiele hervor, die meine Mutter mir eingepackt hatte. Ein paar Minuten waren es ja noch, bis die Probe losging. Ich sah mir die Bilder von Tomb Raider: Die Chronik an und träumte, ich würde jetzt selbst mit meinem Computer die Tiefsee erkunden und verborgene Welten entdecken.

Die Killerspiele ließen mich auch während der Probe nicht los. Wir übten Hodie Christus natus est, einen alten Mönchsgesang. Frau Siebenkittels Plan war, ihn uns beim Einziehen singen zu lassen, noch vor Tochter Zion. Ich hatte keine Ahnung, welchen Effekt sie damit erreichen wollte. Es interessierte mich auch nicht. Meine Gedanken kreisten um die Testpassage «hodie salvator apparuit». Das Wort apparuit ließ mich an das Killerspiel Arkanoid denken, von dem ich einen Abklatsch namens DX-Ball besaß. Eine Stimme in meinem Kopf summte einen Melodiefetzen, den man darin gelegentlich zu hören bekam. Er klang für mich immer wie eine Moll-Variation von Marmor, Stein und Eisen bricht.

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Eigentlich spielte ich so etwas ja nicht. Ich spielte nur Spiele, in deren Verlauf eine nicht geringe Anzahl von Personen ihr Leben lassen musste. So wie meine Klassenkameraden auch.

Es war schon sonderbar: So wie Digimon zum Bruch zwischen Christopher und mir geführt hatte, hatte es mich vielen meiner Klassenkameraden näher gebracht. Sie hassten es nämlich auch. Wir lästerten bei jeder Gelegenheit darüber, das Wort Digi-Ritter galt als schwere Beleidigung.

Noch lieber aber sprachen wir über Killerspiele. Es gab dabei für uns nur ein Qualitätskriterium: die Altersfreigabe. Ein Spiel musste mindestens ab zwölf sein, damit es überhaupt würdig war, gespielt zu werden. Besser war natürlich, es war ab sechzehn oder achtzehn. Doch selbst das befriedigte uns nicht vollkommen. Wir lechzten nach echten Trophäen: Killerspielen, die in Deutschland verboten waren. Sie waren einfach so schwer zu bekommen.

In diesem Zusammenhang hatte ich ihnen sogar anvertrauen können, dass ich einem Knabenchor singe. Nächsten Herbst nämlich würden wir nach Amerika fliegen und da würde sich sicher die Möglichkeit bieten, das eine oder andere Killerspiel zu erstehen. Selbstverständlich würde ich jedem, der mich darum bat, eines mitbringen. Bestellwünsche nahm ich schon jetzt entgegen.

Und so gab es wenigstens noch einen Grund, gerne zum Chor zu fahren.