Die Sesshaftwerdung

Perlen von Holstein Folge 46

Die letzte Probe vor den Sommerferien war auch die letzte in der Handelsschule Kellinghusenstraße gewesen. Der Neue Knabenchor Hamburg zog um. Nach neun Jahren hieß es Abschied nehmen von dem Funktionalbau und seiner Aula. Wehmütig stimmte das keinen, zuallerletzt unsere Chorleiterin. Dazu hatte sie auch keinen Grund, der Chor würde schließlich der gleiche bleiben. Dennoch gab es da etwas, das sie beschäftigte.

«Wisst ihr, ich überlege ja schon seit Wochen fieberhaft, was ich dem Hausmeister zum Abschied sagen soll. Soll ich einfach ganz lieb Tschüß sagen oder irgendetwas Gemeines? Ach, wisst ihr, ich glaube, ich sage einfach: ‹So, nun sind Sie uns ja los.› Genau, das mach’ ich!»

Unsere neue Heimat befand sich im Stadtteil Rotherbaum in einer Ecke namens Pöseldorf. Dort, inmitten von eingezäunten Villen, stand es, das Gebäude der Staatlichen Jugendmusikschule Hamburg. Dieser hatten wir zwar schon vorher angehört, zu spüren gewesen war davon jedoch abseits der Gebührenordnungen und Anmeldeformulare nie viel. Ein eigenes Gebäude hatte der Einrichtung nämlich bislang gefehlt. So waren Lehrer entweder von Grundschule zu Grundschule vagabundiert oder hatten den Unterricht bei sich zuhause erteilt. Das würde in entlegenen Stadtteilen auch weiterhin so bleiben. Wer als Schüler aber in der Innenstadt wohnte oder in einem Ensemble der Jugendmusikschule mitspielte oder -sang, brauchte sich in Zukunft nur noch eine Adresse zu merken: Mittelweg 42.

Möglich gemacht hatte das Michael Otto, der Chef des Otto-Versandes. Er hatte tief in die Tasche gegriffen und irgendeinen bekannten Star-Architekten mit dem Entwurf des Gebäudes beauftragt. Das Ergebnis war ein Kunstwerk aus Stahl, Backsteinen und Beton, das die Gemüter spaltete. Meine Flötenlehrerin mochte das Gebäude, meine Mutter hingegen fand es beeindruckend hässlich. Mein großer Bruder soll beim ersten Anblick gar gesagt haben: «Ist das eine Lagerhalle oder so?»

Wie auch immer man zu dem Bauwerk stand, einzigartig war es. Die Vorderfassade setzte sich aus lauter Wänden zusammen, die allesamt ein wenig schief, aber nie genau gleich schief waren. In sie waren zahlreiche Fenster eingearbeitet, von den ebenso nie zwei exakt gleich groß waren. Manche von ihnen lagen an Stellen, an denen sie weder zur Licht-, noch zur Luftzufuhr wirklich benötigt wurden. Anders gesagt: Sie befanden sich nur dort, weil das eben so chic aussah.

Die Grundfarbe der Fassade war Grau, was die großzügig eingestreuten Farbflächen nur umso kunterbunter erscheinen ließ. Ich fühlte mich entfernt an die Wände des S- und U-Bahnhofs Jungfernstieg erinnert. Auch dort jagte ein greller Farbton den nächsten. Mein Vater hatte mir einmal erzählt, dass das in den Siebzigerjahren groß in Mode gewesen war. Die Hinterseite war dagegen vergleichsweise wenig spektakulär. Ihre Wände waren vollständig gerade und bestanden abwechselnd aus gelbem Putz und roten Ziegeln.

Vor dem Gebäude gab es einen kleinen Garten, dessen linker Teil von einer kahlen Mauer aus Massivbeton flankiert wurde. Niemand konnte so recht sagen, was sie dort zu suchen hatte. Schön fand sie jedenfalls wohl nicht einmal meine Flötenlehrerin.

Ins Innere gelangte man durch zwei große, schwere Türen, die genau das waren: Groß und schwer. Immer wieder beobachtete ich jüngere Knaben dabei, wie sie zum Öffnen beide Arme gebrauchen mussten. Es lohnte sich aber, denn das sich dahinter verbergende Foyer war in der Tat beeindruckend. Unwillkürlich schweifte der Blick nach oben. Dort bildeten zwei gewaltige Emporen die beiden oberen Stockwerke. Natürlich waren auch sie verschieden groß. Überall gab es dicke Stangen in den von außen bekannten kunterbunten Farben. Sie sollten wohl den Eindruck von Rohren erwecken, führten jedoch ins Leere.

Prunkstück des Eingangsbereichs war jedoch die Pythagoreische Treppe, über die man in den ersten Stock gelangte. Je höher man dabei kam, desto kürzer wurden die Stufen. Nicht proportional kürzer, nur eben kürzer. Die unterste war bestimmt drei Meter lang, die darüber liegende nur noch etwa zweieinhalb. Ihnen allen war gemein, dass sie nicht mit genau einem oder genau zwei normalgroßen Schritten bewältigt werden konnten. Man musste eine individuelle Schrittgröße finden, wollte man die Treppe möglichst gleichmäßig erklimmen. Meist war nach etwa fünf Stufen Schluss. Dann musste man innehalten und eine neue Schrittgröße suchen, wollte man nicht stürzen. Die berüchtigte Wolfsquinte.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Die Wolfsquinte ist das, worauf man früher oder später stößt, wenn man ein Instrument spielt, das pythagoreisch gestimmt ist. Die Quinten waren damals größer als heute. So groß, dass man bei jeder zwölften etwas wegnehmen musste, wollte man je wieder zum Ausgangston zurückkehren können. Das Ergebnis klingt grausam schief.

Hinter und über dem Foyer befanden sich die Räume, teilweise an den unmöglichsten Stellen. Es gab viele kleine Räume und zwei große: Die beiden Studiosäle. Sie waren Vortragsabenden und Ensemble-Proben vorbehalten. Wir mit unseren insgesamt rund fünfzig Mann bekamen jedoch nicht etwa den Großen Studiosaal, sondern lediglich den Kleinen. Und auch das nur am Dienstag.

Donnerstags, wenn nur wir Knaben Probe hatten, mussten wir uns in einen Winkel des Gebäudes begeben, der nah beim Foyer und doch weit abseits lag. Man erreichte ihn durch einen Gang, der sich links von der Pythagoreischen Treppe befand und den man zunächst gar nicht für einen Gang hielt. Hier hausten diejenigen, die man vor den Augen der Öffentlichkeit gerne ein wenig verbarg. Namentlich war das die Musiktherapie-Gruppe, die im Nebenzimmer einquartiert worden war. Zumindest konnten wir das dem Schild neben der Tür entnehmen, denn wir sahen dort niemals jemanden hinein- oder herausgehen. Wir hörten immer nur das Trommeln. Und das die liebe lange Probe lang.

Das Trommeln war das eine Problem, die kichernden Mädchen vor dem Verandafenster das andere. Jede Woche liefen sie in Grüppchen vorbei und machten sich einen Spaß daraus, uns abzulenken. In solchen Augenblicken dürfte Frau Siebenkittel sich ein wenig nach der Handelsschule Kellinghusenstraße und ihrem bärbeißigen Hausmeister zurückgesehnt haben. Der war immerhin erst nach der Probe aus seinem Loch gekrochen gekommen.

Und so sehr die dortigen Holzstühle auch ein Zeichen des Verfalls gewesen sein mochten. Sie waren leicht genug gewesen, dass zwei bis drei Knaben alle Stuhlreihen hatten aufbauen können. Die hiesigen boten die Möglichkeit, Lehne und Sitzfläche den Bedürfnissen wirklich jedes menschlichen Körpers anzupassen. Sie waren jedoch so schwer, dass wir uns schnell darauf verständigten, dass sich jeder seinen selbst vom Stapel nahm.

Ein klares Argument für sie war aber der kleine Aufkleber, der auf der Rückseite der Lehne angebracht war. Er klebte so fest, dass man stundenlang daran herumpulen konnte, ohne dass er sich je vollständig löste. Ein entzückendes Spielzeug für langweilige Proben.

Obwohl der neue Probenort nur zwei Kilometer vom alten entfernt lag, hatte man das Gefühl, völlig woanders zu sein. Und obwohl der neue Probenort nur zwei Kilometer vom alten entfernt lag, musste ich eine vollkommen andere Strecke fahren, um dorthin zu gelangen. Wie das eben so war, wenn man in Finkenwerder wohnte.

Die Zeiten des Fährefahrens waren vorbei, zum Mittelweg 42 gelangte man mit zwei Bussen. Einer davon war der 115er und das war bemerkenswert. Als ich kleiner war, hatte ich ihn gehasst, denn man konnte ihn so leicht mit dem 150er verwechseln, der einen nach Finkenwerder brachte. Jetzt hasste ich eher den 113er, denn von dem kamen am Busbahnhof Altona jedes Mal bis zu drei Stück angefahren, ehe endlich mein 115er fuhr.

Ich vertrieb mir die Zeit meist damit, mich über die Glaszylinder mit den rotierenden Werbeflächen lustig zu machen. Dort hingen lauter kleine Plakate mit der Aufschrift: «Hier werben Sie erfolgreich!» oder «Werben mit Erfolg». Alles gut und schön, nur schien keine einzige Firma darauf hereingefallen zu sein, wie David es ausdrücken würde. Werbung für Produkte oder Dienstleistungen suchte man vergebens. Die Leute interessierten sich aber auch mehr für die dazwischen hängenden Fahrpläne.

An der Fahrzeit änderte sich durch die neue Route herzlich wenig. Sie betrug noch immer rund eineinviertel Stunden. Eineinviertel Stunden, in denen ich nicht einmal lesen konnte, denn dabei wurde mir im Bus schlecht. Dennoch konnte ich mir beim Mittagessen mehr Zeit lassen. Die Dienstagsprobe war ohne Angabe von Gründen um eine halbe Stunde nach hinten verlegt worden.