Meine schwerste Prüfung

Perlen von Holstein Folge 42

Januar 2000

Seit einem halben Jahr war ich nun am Gymnasium. Vieles war hier anders als an der Grundschule. Der Musikunterricht nicht. Wir sangen Horch, was kommt von draußen rein, hörten Karneval der Tiere und malten gemeinsam Noten. Ich hatte davon abgesehen, mich dabei besonders hervorzutun. Ich hatte inzwischen begriffen, dass ich damit bei meinen Altersgenossen auf Ablehnung stieß. Für das Schließen von Freundschaften war es eher förderlich, sich über allzu fleißiges Musizieren lustig zu machen. So geschehen in der Grundschule. Ein Junge aus der dritten Klasse hatte irgendwann gemerkt, dass wir beide bei der gleichen Lehrerin Flötenunterricht nahmen. Fortan war er in jeder Pause zu mir gekommen, um mir eine Frage zu stellen: «Hast du schon geübt?»

Die von uns beiden im Chor geäußerte Antwort war stets ein langes, genüssliches Nein gewesen. Selbst dann, wenn ich eigentlich geübt hatte.

Meine Zurückhaltung hatte aber noch einen weiteren Grund: Unser Lehrer war das, was man gemeinhin Schlaftablette nannte. Ihm zuhören zu wollen war selbst für den interessierten Menschen eine Herausforderung. Heute aber hingen wir an seinen Lippen. Es war der Tag, an dem er uns unsere Zeugnisnoten mitteilte. Wir hatten wohlgemerkt keine einzige Klassenarbeit geschrieben. Notenentscheidend war für unserer Lehrer deshalb nur eines: Die Anzahl der Instrumente, die wir spielten.

Und so fragte er natürlich auch mich: «Und welche Instrumente spielst du, Lennart?»

«Ähm, ja also, Flöte und Klavier und ich singe im Chor», sagte ich. Was blieb mir auch anderes übrig? Ich wollte ja nun keine Fünf bekommen.

«Ja, dann ist das theoretisch Eins», erwiderte mein Lehrer, «aber dann musst du uns schon auch mal was vorsingen. Machst du das dann nächste Woche?»

Ich nickte. Dabei spürte ich, wie mein Magen zu revoltieren begann. Nicht viel hätte gefehlt und das drei Tage alte Laugenbrötchen aus der Schulcafeteria wäre wieder herausgekommen.

Vor der ganzen Klasse singen zu müssen, das hatte mir gerade noch gefehlt. Noch zu gut erinnerte ich mich daran, wie ich in der dritten Klasse einmal etwas auf dem Klavier vorgetragen hatte. Natürlich hatte ich mich verspielt, natürlich hatte mich das aufgeregt und natürlich hatten meine Klassenkameraden dann gelacht. Das hatten sie zwar nur in dem Moment und nicht später noch eintausend Male, trotzdem musste ich das nicht noch einmal haben. Zumal ich da ja wie gesagt lediglich Klavier gespielt und nicht gesungen hatte. Ich konnte gut singen, doch nur zusammen mit den anderen Knaben. Sobald die weg waren, ging gar nichts mehr. Dann klang meine Stimme hauchig, kraftlos, gequetscht. Es war ein ewiges Drama.

Und dann sollte ich auch noch etwas vom Chor singen. Die Blamage meines Lebens stand mir bevor.

Ich spürte, wie mir Tränen die Wangen herunterliefen.

«Lennart freut sich ja gar nicht über seine Note», sagte ein Mädchen.

Am Nachmittag war ich zu dem Schluss gekommen, dass es vielleicht doch gar nicht so schlimm werden würde. Ich musste einfach etwas singen, das den anderen gefiel, schon war ich fein raus. Und wenn sich jemand über meine Sopranstimme lustig machte, würde mein Lehrer ihn sicher auffordern, es selbst besser zu machen und dann würde er aber dumm dastehen.

Ein Stück war schnell gefunden. Ich würde Alta trinita beata singen. Das hatte ich schon gemocht, als ich es zu Vorchorzeiten bei einem Konzert des Hauptchors gehört hatte. Es war zwar lateinisch, trotzdem sangen nicht alle Stimmen durcheinander. Vielmehr war alles schön übereinander und passte wunderbar zusammen, der Sopran zum Bass, der Tenor zum Alt. Das würde freilich verloren gehen, wenn ich alleine sang. Doch klang die Melodie auch alleine recht hübsch.

Das musste sie doch überzeugen. Und wenn schon nicht sie, dann zumindest meinen Lehrer. Um den ging es ja letztlich.

Unser Lehrer ließ mich lange warten. Geschlagene vierzig Minuten lang tat er nichts anderes, als Dur-Tonleitern an die Tafel zu schreiben. Zeit, in der ich noch einmal so richtig ins Grübeln geriet. Was würde sein, wenn ich los sang und alle würden johlen oder gar lachen? Es brauchte ja nur einer damit anzufangen, schon würden alle mit einstimmen. Und unser Lehrer konnte natürlich meckern und Strafen verhängen. Doch was nützte mir das, wenn ich in der Pause und auf dem Schulweg umzingelt wurde? Und wenn sie das nicht nur einmal taten, sondern bis in alle Ewigkeit? Am Ende würde mir wohl nichts anderes übrig bleiben als die Schule zu wechseln.

«Lennart», riss es mich aus meinen Gedanken, «möchtest du uns jetzt etwas vorsingen?»

«Ähm, ja», antwortete ich.

Ich meinte, aus der Ferne ein leises Kichern zu vernehmen. Dann aber war es still. Beängstigend still.

Ich nahm all meinen Mut zusammen und sang los: «Alta-a trini-ita be-eata –»

«Schön!», sagte mein Lehrer.

Ansonsten sagte keiner was. Alle waren mucksmäuschenstill. War es Aufmerksamkeit? War es Desinteresse? War es fassungsloses Entsetzen? Ich konnte es nicht sagen. Es war auch müßig, jetzt darüber nachzudenken.

Zwei Minuten war Alta trinita beata nach meiner Einschätzung lang. Sie kamen mir endlos vor.

Doch schließlich waren sie vorbei.

«Schön!», sagte mein Lehrer wieder, «Dann kriegst du jetzt eine Eins.»

Die anderen waren noch immer still. Niemand äußerte sich zu meiner Gesangsleistung. Jetzt nicht und auch später nicht. Nie. Ich wusste nicht, woran es lag, aber niemand schien Angriffsfläche nutzen zu wollen.

Ich war aus dem Schneider. Und ich sollte für all den Kummer mehr als angemessen entschädigt werden. Fortan bekam ich immer eine Eins in Musik. Egal, ob ich mitmachte oder ob ich der letzten Reihe saß und die zu heute auf gewesenen Mathe-Hausaufgaben erledigte. Meistens tat ich letzteres. Dabei sang ich, mehr für mich, dafür aber mit so mehr Innbrunst:

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