Unliebsame Neuerungen

Perlen von Holstein Folge 41

Dezember 1999

Frau Siebenkittel hatte eine frohe Botschaft zu verkünden.

«Ja, ihr wisst ja, dass wir morgen endlich mal wieder im Michel auftreten dürfen. Und das ist dann auch wieder ein richtiges Konzert und nicht nur halbblinde Omis und halbtaube Opis, die nur kommen, weil wir rote Pullover anhaben.»

Die Männer lachten.

«Aber es kommt noch besser», fuhr unsere Chorleiterin fort, «denn es wird da auch ein Prominenter zu Gast sein, jemand, den ihr ganz bestimmt alle kennt. Aber ich sage euch jetzt nicht, wer das ist, das soll nämlich eine kleine Überraschung sein. Ihr könnt euch aber schon mal freuen!»

Ein Prominenter, oh, das war in der Tat ein Grund zur Freude. Das war doch mal etwas, das man in seiner neuen Klasse erzählen konnte. Etwas, das man nicht geheim halten musste. Ja, etwas, mit dem man vielleicht sogar angeben konnte. Bisher hatte sich der Chor ja nicht besonders gut dafür geeignet.

Ich fragte mich, was für ein Prominenter das wohl sein mochte. Wenn Frau Siebenkittel aber meinte, dass wir ihn kennen würden, war es bestimmt irgendein bekannter Fernsehstar. Ingolf Lück vielleicht. Oder sogar Stefan Raab.

Es war ja nichts Ungewöhnliches, dass zu Weihnachten auch Menschen in die Kirche gingen, die dort sonst nicht anzutreffen waren.

Voller Vorfreude trat ich am nächsten Tag die Fahrt zum Michel an. Ich war wirklich zuversichtlich, dass heute etwas Großes passieren würde. Bisher war dieses Weihnachten ja eher eine Enttäuschung gewesen.

Die Reise nach München fiel aus. Frau Siebenkittel hatte heraushängen lassen, dass sie auch nächstes Jahr und übernächstes Jahr und überübernächstes Jahr nicht stattfinden würde. Ich war fassungslos gewesen. Vor einigen Monaten noch hatte der Termin dick und fett in der Jahresvorschau gestanden und nun das. Dahin war der Traum vom alljährlichen Fliegen.

Viel tragischer war, zumindest in den Augen meiner Mutter, der Weggang der Witta Pohl. Man munkelte, sie sei den Entscheidern gegenüber zickig geworden. Jedenfalls war es ein Mann, der an ihrer Stelle dieses Jahr die Gedichte und Geschichten vortrug. Ein Mann, dessen Name ich nicht wusste, weil er nie genannt wurde.

Wir hatten es hier ohne Zweifel mit zwei einschneidenden Veränderungen zu tun. Und wäre es nach unserer Chorleiterin gegangen, es hätte noch eine dritte gegeben.

«Ich hatte ja überlegt, vielleicht könnte man ja nach Die Nacht ist vorgedrungen nicht Der Morgenstern ist aufgedrungen, sondern Drei Kön’ge wandern aus Morgenland singen. Wie findet ihr das?»

Nun musste man wissen, dass Drei Kön’ge wandern aus Morgenland das einzige Stück aus unserem gegenwärtigen Weihnachtsprogramm war, das ich nicht leiden konnte. Um nicht zu sagen: Ich hasste es. Es war von einer solch erbarmungslosen Bescheuertheit, dass sich einem die Fußnägel hochrollten. Und das vom ersten bis zum letzten Takt.

Der Ablauf des Stückes gestaltete sich wie folgt: Einer von den Männern schmetterte, als ob das ein deutscher Satz wäre: ‹Drei Kön’ge wa-andern aus Morgenland›. Wir Knaben sangen dann aber nicht etwa das Gleiche, sondern: ‹Wie schön leuchtet der Morgenstern›, ohne dass sich ein Zusammenhang zu dem anderen Text und zu der anderen Melodie erkennen ließ. Die Töne waren dabei nicht schräg wie bei Britten, sie waren im Gegenteil schauderhaft lieblich.

Grauenhaft, einfach grauenhaft.

Umso dankbarer war ich Imanuel für seinen Einsatz gewesen.

«Nee, Frau Siebenkittel, Der Morgenstern ist aufgedrungen mag ich viel lieber! Das hat viel mehr Farbe!»

Da hatte unsere Chorleiterin von ihren Plänen Abstand genommen.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Es sollte an dieser Stelle bemerkt werden, dass Peter Cornelius die Perlen von Holstein wohl genauso wenig geschätzt hätte wie Lenni-Löwe sein Drei Kön’ge wandern aus Morgenland. Über Richard Wagner schrieb er einst: «Wagner weiß und glaubt es nicht, wie sehr er anstrengt. Es dauert keine zwölf Minuten, so sind wir tief in Tristan und Isolde drin – der erste Akt wird ganz gesungen. Unterdes wird der Tee serviert – wir haben kaum eine halbe Tasse getrunken, so ist Wagner tief im Erzählen seines Parsifal drin – und das geht den ganzen Abend, bis wir uns trennen – Aber so geht’s nicht einmal, sondern fast immer. Von sich sprechen, lesen, singen muss unser großer Freund, sonst ist ihm nicht wohl»

Was Frau Siebenkittel uns als Konzert angekündigt hatte, war lediglich ein Auftritt. Natürlich war es das. Konzerte gaben wir im Michel nicht, im Michel hatten wir nur Auftritte. Meist eingebettet in einen Gottesdienst oder eine vergleichbare Laberveranstaltung. Heute war es letzteres.

Meine Güte, zog sich das wieder hin. An sich liebte ich Weihnachtsauftritte ja wie eh und je. Daran hatten auch Age of Empires und manches noch brutalere Killerspiel nichts geändert. Dieses verschnarchte Drumherum hingegen konnte und wollte ich allmählich nicht mehr hinnehmen. Verdammt, konnten die denn nicht wenigstens versuchen, es mit der Farbe, Freude und Festlichkeit unserer Stücke aufzunehmen?

Wann kam denn nun eigentlich endlich dieser Prominente?

Noch eine Sache hatte sich geändert. Ich stand bei Konzerten nun nicht mehr vom Zuschauer aus gesehen ganz links außen, beinahe vom Podest fallend. Weil ich seit Age of Empires in der Probe in der Mitte saß, befand ich mich nun auch beim Konzert dort. Neben Simon. Simon war jemand, der gerne auf Tuchfühlung ging. Manchmal war er so dicht an mir dran, dass mir nichts anderes übrig blieb, als mich diagonal hinzustellen. Dann doch lieber fast vom Podest fallen.

Eine andere Änderung hätte ich hingegen sehr begrüßt; Ich wollte nicht mehr Lenni-Löwe heißen. Zum einen, weil mir das mit meinen elf Jahren allmählich doch etwas peinlich war. Zum anderen, weil sich das mit den Löwen erledigt hatte.

Das war etwas, was ich selbst noch nicht so richtig glauben konnte, es war alles so schnell gegangen. Nicht lange war es her, da war ich überzeugt gewesen, dass ich noch als Erwachsener in König-der-Löwen-Bettwäsche schlafen würde. Im Februar war der zweite Film erschienen und mein Bestand an Fanartikeln hatte sich beträchtlich erweitert. Eines Morgens aber war ich aufgewacht und hatte gemerkt, dass mich all das einfach nur noch langweilte. Zuerst hatte ich es nicht wahrhaben wollen und mein ganzes Bett mit Plüschtieren vollgestellt. Das hatte aber an den Tatsachen nichts ändern können. Es war vorbei.

Ich wusste, dass es ziemlich aussichtslos war, Frau Siebenkittel zu sagen, dass ich ab heute Lennart heißen will. Sie gab schließlich selbst Erwachsenen Spitznamen. Unseren Pianisten in Israel zum Beispiel, den hatte sie immer Paul Plaschtikfolie genannt. Einmal hatte sie uns auch den Grund dafür erzählt.

«Ja, wisst ihr, wir hatten mal eine Probe mit ihm und da lag die ganze Zeit so eine Plastikfolie auf dem Flügel. Und dann kam jemand rein und meckert ihn an: ‹Mensch, Paul, nun nimm doch endlich mal die blöde Plaschtikfolie da weg.›»

Wer Menschen aus solchen Anlässen Spitznamen gab, der würde sich durch etwas Banales wie einen Sinneswandel wohl kaum einen davon abgewöhnen lassen.

Endlich trat der Prominente auf die Kanzel. Es war jemand, von dem ich in meinem ganzen Leben noch nie gehört hatte. Kein Fernsehstar, eher ein gutmütiger Alter. Wäre er uns nicht als Prominenter angekündigt worden, ich hätte ihn für einen ganz normalen Redner gehalten. Was er zu sagen hatte, ließ mich allerdings hellhörig werden.

«Ich finde das ja ganz besonders schön, dass der Neue Knabenchor Hamburg heute hier ist und für uns singt. Denn die meisten von Ihnen wissen sicherlich, dass ich als Junge selbst im Knabenchor gesungen habe. Und wir haben uns immer ganz besonders darauf gefreut, hier im Michel die Matthäus-Passion mitzusingen, also das O Lamm Gottes. Dafür bekamen wir nämlich fünfzig Pfennig. Danach sind wir dann immer, noch in Chorkleidung, zum Dom gegangen und haben das Geld dort verprasst.»

Ich staunte nicht schlecht. Wenn ich meine Mutter früher gefragt hatte, was wir denn eigentlich für die Auftritte bekommen, hatte ich stets die gleiche Antwort erhalten: Ruhm und Ehre. Und damit hatte ich mich bislang in den allermeisten Fällen begnügen müssen. Für das War Requiem hatte jeder von uns eine Sonderzahlung von dreißig Mark gekriegt. Eine gewaltige Menge Geld, sauer verdient. Ansonsten waren die Schokoladenweihnachtsmänner von Tabea das höchste der Gefühle gewesen. Für die Matthäus-Passion kriegten wir nichts. Wobei: Mit fünfzig Pfennig bekam man beim Hamburger Dom heute vielleicht ein halbaufgegessenes Gummibärchen. Von daher musste ich darüber wohl nicht allzu traurig sein.

Nach dem Auftritt erfuhr ich: Meine Mutter hatte genau den gleichen Gedanken gehabt. Ihre Schlussfolgerung jedoch war eine andere.

«Also ich finde, wenn die früher fünfzig Pfennig für die Matthäus-Passion bekommen haben, dann solltet ihr heute fünf Mark dafür bekommen!»

Umgehend teilte sie Frau Siebenkittel ihren Vorschlag mit. Die reagierte eher verhalten darauf, um die Idee dann in der nächsten Probe als ihre eigene zu verkaufen.

«Ja, ihr habt ja alle mitgekriegt, dass die früher fünfzig Pfennig für jede Matthäus-Passion gekriegt haben. Und da dachte ich mir, wäre es doch nett, wenn ihr fünf Mark dafür bekommt.»

So kam es, dass sich unser Chorsänger-Einkommen sagenhaft erhöhte auf fünf Mark pro Jahr oder Matthäus-Passion.

Das war doch zur Ausnahme einmal eine begrüßenswerte Neuerung.