Am historischen Ort

Perlen von Holstein Folge 40

Große Ereignisse warfen ihren Schatten voraus. Einen tiefschwarzen Schatten, der sich auf Frau Siebenkittels Gemüt legte und sie mit nichts mehr zufrieden sein ließ. Das wussten wir seit jenem Chorwochenende vor der Fahrt nach Regensburg. Und das wusste sie seit jenem Chorwochenende vor der Fahrt nach Regensburg.

Deshalb warnte sie uns heute schon einmal vor: «Die Großen wissen es ja schon seit Regensburg: Vor großen Auftritten bin ich immer sehr nervös. Seid mir also bitte nicht böse, wenn ich heute ein bisschen mehr zu meckern habe als sonst. Das ist nur meine Aufregung und hat nichts mit euch zu tun.»

Sie forderte uns nicht auf, ihr Bescheid zu sagen, wenn sie zu weit ginge. Das wäre wohl auch zwecklos gewesen. Besonders in der letzten Viertelstunde lagen die Nerven blank. Fast unablässig schimpfte unsere Chorleiterin mit uns. Wir konnten von Glück reden, wenn sie uns zehn Sekunden singen ließ, ohne abzubrechen.

«Keine Sau wird uns mehr engagieren, keine Sau!», schrie sie zuletzt.

Worte, die noch in mir wiederhallten, als wir am nächsten Tag bei der Generalprobe eintrafen. Ein bemerkenswert junger Mann empfing uns. Henning Münther hieß er. Er war derjenige, der die Aufführungen des War Requiems leiten würde. Die Sau also, die uns engagiert hatte.

«So, dann sing doch mal bitte einfach das, was ihr im als erstes zu singen habt», sagte er. Wir taten es. Dann ließ er uns singen, was wir als zweites zu singen hatten.

Er war begeistert.

«Hach, das ist genauso, wie ich mir das vorgestellt hatte!», sagte er.

Womit es wieder einmal bewiesen war: Fremde Eltern, fremde Lehrer, fremde Chorleiter waren immer netter zu einem als die eigenen.

Der Generalprobe folgte ein Konzertmarathon, der Weihnachten wie einen Erholungsurlaub scheinen ließ. Am Freitagabend führten wir das War Requiem in Bad Oldesloe auf, am Sonnabendabend in Bad Segeberg. Beides Orte, die weit außerhalb von Hamburg lagen. Als mein Vater und ich am ersten Tag wieder am Bahnhof Altona standen, war Mitternacht schon lange rum. Der Bus war gerade weg und der nächste sollte erst in einer halben Stunde fahren. So blieb meinem Vater nichts anderes übrig als mit mir zu McDonald’s zu gehen. Er hasste McDonald’s, aber sonst hatte kein Laden mehr offen. Für mich eine segensreiche Erkenntnis.

Die dritte Aufführung fand innerhalb Hamburgs statt, aber in einer Gegend, in die man normalerweise nicht kam, in der auch kaum jemand wohnte. Wiesen und Felder säumten die Straße, die unser Bus entlangfuhr. Zwischen ihnen lagen kleine Wassergäben. Hätte ich nicht einst in Neuenfelde gewohnt, ich hätte geglaubt, auf dem Land zu sein.

Der Bus kam vor einem länglichen Backsteingebäude zum Stehen. Außer meiner Mutter und mir stiegen noch zwei glatzköpfige Herren aus. Ihr Ziel war aber nicht das längliche Backsteingebäude, sondern der graue Komplex direkt daneben.

«Das sind wohl Knackis, die dieses Wochenende Hafturlaub hatten», sagte meine Mutter leise, «Muss ja auch irgendwie schrecklich sein, zurück in den Knast fahren zu müssen.»

Ein Gefängnis nämlich war das einzige was hier noch stand außer dem ehemaligen KZ Neuengamme, unserem heutigen Auftrittsort.

Ich musste doch sagen, dass er ziemlich harmlos aussah. Das längliche Backsteingebäude war zweistöckig und bestand aus roten Ziegeln. Eine Beschreibung, die in Hamburg auf sicher eine Million Gebäude zutraf. Dahinter lag ein gewaltiger Innenhof mit rechteckig geformten Kiesflächen. Abgesehen von seine Größe war das einzige, was ihn von einem Platz in einem Ferienheim unterschied, dass es weder Spielplätze, noch Sitzgelegenheiten gab. Auch die obligatorischen Grünflächen und Bäume fehlten irgendwie.

Einladend war das nicht gerade und im Sommer war es bestimmt ziemlich ätzend, auf diesem Platz stehen zu müssen. Von einem KZ hatte ich aber eigentlich erwartet, dass einem der Tod direkt ins Auge sprang.

Im länglichen Backsteingebäude tat er das dann auch endlich. Wir betraten eine Halle mit lauter Öfen. Sie sahen aus, als wären sie Hänsel und Gretel entsprungen.

«Mama, haben die da drinnen früher die Juden verbrannt?», fragte ich.

«Nein, das hier war kein Lager, wo sie die Menschen vergast oder verbrannt haben. Hier mussten die ‹nur› arbeiten. In den Öfen haben die wohl Ziegel gemacht.»

«Achso.»

Durch eine Tür gelangten wir in eine etwas kleinere Nebenhalle. Hier würden wir in wenigen Stunden unseren Auftritt haben. Die Stuhlreihen und eine Bühne waren bereits aufgebaut. Nun aber mussten wir erst mal auf die Ankunft sämtlicher anderer Chormitglieder warten. Meine Mutter fuhr immer eine halbe Stunde eher als nötig los. Auch wenn das Ziel ein KZ war.

Die Konzerte in Bad Oldesloe und Bad Segeberg waren ausverkauft gewesen. Das im ehemaligen KZ Neuengamme war mehr als das. Die Stuhlreihen waren längst alle voll, da drangen immer noch Leute hinein. Als Sitzgelegenheit dienten ihnen Transportkisten, die irgendwer rasch herbeigeschafft hatte. Ich fragte mich, welchem Zweck sie wohl ursprünglich gedient haben mochten. Sie sahen jedenfalls nicht so aus, als ob sie erst seit gestern hier stünden.

Das Problem mit den Kisten war aber ein anderes: Sie knarrten schon, wenn man sie nur ansah. Wenn diejenigen, die auf ihnen Platz nahmen, nicht absolut still saßen, würde das eine interessante Version des War Requiems werden.

Bereits nach wenigen Takten war klar, dass das nicht passieren würde. Den Blicken des Publikums zufolge war das letzte, worüber es jetzt nachdachte, eine Änderung seiner momentanen Sitzposition.

Das hatte uns während der Singpausen natürlich ein Vorbild zu sein. Frau Siebenkittel hatte bereits im Chorplan gebeten, keine Klo-Sitzhaltung einzunehmen. Der Gedanke daran ließ mich ein wenig schmunzeln. Unsere Chorleiterin schrieb uns immer mal wieder lustige Sachen in den Plan. Einmal hatte sie dort beispielsweise gebrauchte Konzertschuhe zum Geschenk angeboten. ‹Kaum stinkend!›, wie sie versichert hatte. Es war trotzdem fast niemand darauf eingegangen.

Das Konzert war fast vorbei. Wir, der Erwachsenenchor und die Sopranistin sangen unser «In Paradisum deducant», der Tenor und der Bass ihr «Let us Sleep now». Mit Glockenschlägen und einigen letzten schrägen Tönen verhallte das Werk schließlich ganz allmählich.

Danach geschah erst einmal nichts. Das war sonderbar. Normalerweise klatschte das Publikum immer sofort drauf los, gerne auch schon mal, bevor der letzte Ton überhaupt verklungen war, noch lieber zwischen den Stücken. Jetzt aber saß es regungslos dar.

Ich konnte es wohl für ausgeschlossen halten, dass es ihm nicht gefallen hatten. Zum einen, weil das bei einem Konzert von uns schlicht unmöglich war, zum anderen, weil die Zuschauer uns dann wohl ausgebuht oder einfach aufgestanden und gegangen wären. Sie taten aber nichts Derartiges. Ihren Blicken nach zu urteilen applaudierten sie einfach nur deshalb nicht, weil sie es sich irgendwie nicht trauten.

Plötzlich aber ging er los, ein Beifall so ausdauernd, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. Immer wieder musste der Verbeugevorgang wiederholt werden. Alle Beteiligten, also auch wir Knaben, bekamen eine Lilie in die Hand gedrückt. Frau Siebenkittel strahlte über das ganze Gesicht.

Und so sehr ich hoffte, in absehbarer Zeit kein weiteres Werk von ihm singen zu müssen: In diesem Augenblick war ich Benjamin Britten dankbar.