Unbeabsichtigte Selbsterhöhung

Perlen von Holstein Folge 36

Das Konzert in der Münchener Michaelskirche begann wie ein Gottesdienst. Der Pastor trat nach vorne und hieß uns mit seinem wärmsten Lächeln willkommen. Dann brachte er seine Freude darüber zum Ausdruck, dass erneut mehr Menschen hierhergekommen waren als im Jahr davor.

In der Tat: Die Bänke waren brechend voll. Würden es nächstes Jahr noch mehr werden, würden sie hier wohl Stehplätze einführen müssen. Sie konnten natürlich auch welchen den Eintritt verweigern. Es wäre ebenso nur ein weiterer Beweis dafür, dass der Neue Knabenchor Hamburg in allen Kirchen der Welt zuhause war.

Der Pastor trat ab und machte die Bühne frei für ein Konzert, das exakt genauso verlief wie das in St. Jacobi. Wir versprühten unsere Farbe, Freude und Festlichkeit und genossen zwischendurch lange Sitzpausen. Der Grund war Witta Pohl, die ihre Gedichte und Geschichten vortrug.

Ich indes stand, wo ich immer stand: Vom Zuschauer aus gesehen ganz links außen, beinahe vom Podest fallend. Meine Mutter machte sich gerne darüber lustig und glaubte, dass das Frau Siebenkittels Einfall war. Als hätte die in dieser Hinsicht etwas zu sagen gehabt. Die Aufstellung setzte sich aus lauter historisch gewachsenen Stammplätzen zusammen. Ich hatte meinen dadurch erhalten, dass ich während meiner ersten Wochen im Hauptchor immer an den äußersten Rand gesetzt hatte, um ja niemandem auf die Nerven zu gehen.

Anders als sonst stand ich aber nicht in der zweiten, sondern in der ersten Reihe. Die Neuen, also die neuen Neuen, waren nicht da. Als dann das Konzert vorbei war und eine lächelnde Frau Siebenkittel eine Handbewegung in meine Richtung machte, war das für mich eine klare Botschaft: Wir sollten abziehen. Es war schon ein etwas merkwürdiger Gedanke, das einmal als erster tun zu müssen. Ich ließ mich davon jedoch nicht beirren und marschierte los.

Das Lächeln im Gesicht unserer Chorleiterin wandelte sich binnen Millisekunden zu einer Miene, die jedem gestandenen Ritter das Fürchten gelehrt hätte. Sie stürmte direkt auf mich zu und raunte mich an, sofort zurückzugehen. Ehe ich mich versah stand ich wieder an meinem alten Platz: Ganz links außen, beinahe vom Podest fallend. Im gleichen Augenblick zogen Witta Pohl und unsere Favoriten Benedict und Vinzent rechts an mir vorbei. Da begriff ich.

Das Lächeln unserer Chorleiterin hatte nicht mir gegolten, sondern ganz allein den dreien. Es hatte ihnen signalisieren sollen, dass es an der Zeit war, nach vorne zu kommen und sich zu verbeugen. Wie hatte ich nur etwas anderes denken können?

Mein Gesicht wurde heiß wie eine Glühbirne. Ich brauchte mir keine Illusionen zu machen, mich nicht verschämt umzusehen: Das hatten jetzt wirklich alle bemerkt. Alle hatten ihn gesehen, diesen Möchtegern, der seinen Platz nicht kannte. Der ernsthaft meinte, so gut gewesen zu sein, dass er sich verbeugen durfte. Was hatte er dann schon gemacht, außer sich in einer Tour zu versingen?

Mein Blick fiel auf Witta Pohls karierten Oma-Rock. Ein Kleidungsstück, das so geschmacklos war wie seine Trägerin eingebildet. Diese Selbstverständlichkeit, mit der sie meinte, im Applaus der Menge baden zu dürfen, machte mich rasend. Was tat sie denn so Besonderes? Gedichte vortragen, oh, Toll! Als hätte ich das nicht gekonnt. In der Schule machte ich das immer wieder und wurde dafür gelobt, dass ich so gut darin war. Applaus bekam ich trotzdem keinen, dabei lernte ich die Gedichte auswendig und las sie nicht einfach von irgendeinem Zettel ab.

Eine gefühlte Ewigkeit verging, bis sich alle zu Ende verbeugt hatten. Dann durften wir wirklich abziehen. Doch das Elend war noch lange nicht ausgestanden. Kaum dass wir im Gemeinderaum angekommen waren, wandte sich auch schon der erste Knabe zu mir um.

«Was war denn los, Lenni-Löwe? Dachtest du, du musst dich verbeugen?»

Ich sagte nichts, was hätte auch darauf antworten sollen? Die Wahrheit? Als würde die einer hören wollen.

Frau Siebenkittel schien indes beschlossen zu haben, sich nicht weiter von mir den Tag verderben zu lassen. Sie war nach diesem wieder einmal gelungenen Abend vielmehr hochbeglückt. Mehrere Minuten zog sich ihre Dankesrede hin.

«Und ganz besonders loben möchte ich Imanuel, der vorhin ganz toll als erster abgezogen ist.»

Ein Lob, das wohl mir gegolten hätte, wenn ich im richtigen Moment als erster abgezogen wäre. Und wenn derjenige gewesen wäre, der als erster hatte abziehen müssen.

Der Bus wartete vor der Kirche bereits auf uns. Das Einsteigen verlief schnell und konfliktlos. Nach zwei doch recht anstrengenden Tagen waren die meisten zu erschöpft, um sich um die Sitzplätze zu rangeln. Auch mir war nach dieser fürchterlichen Blamage vorhin nur noch nach Dösen zumute. Die Bedingungen hierfür waren ideal: Draußen herrschte tiefste Nacht und auch hier drinnen brannte nur gedämmtes Licht. Ich brauchte also nur meinen Kopf gegen die Scheibe zu lehnen, schon würden die Gedanken kreisen.

Dazu sollte es jedoch nicht kommen. Jemand legte eine Videokassette ein. Beim ersten Bild durchfuhr mich ein Schreck. ‹Freigegeben ab zwölf Jahren›, stand da.

Die älteren Knaben hinter mir johlten. «Den darfst du aber noch nicht gucken, Lenni-Löwe!», hörte ich einen von ihnen sagen.

Nein, das durfte ich nicht, das wollte ich auch gar nicht. Filme, in denen geschossen und gemordet wurde, machten mir Angst. Noch zu gut erinnerte ich mich an die schlaflose Nacht, die ich vor einem halben Jahr gehabt hatte. Wir hatten zusammen eine Folge Stadtklinik gesehen. Eine Frau mit einer Leopardenbluse hatte ihrem Mann mehrmals mit einer Schere in die Brust gestochen und er war daran gestorben. Ich war fassungslos gewesen. Niemals hatte ich für möglich gehalten, dass man so leicht jemanden töten konnte.

Noch schlimmer war dieses Akte X, das meine große Schwester mindestens einmal in der Woche sah. Als ich das erste Mal die Titelmelodie gehört hatte, hatte ich gerade in der Badewanne gelegen. Es war sicher eine Viertelstunde vergangen, bis ich mich getraut hatte, aufzustehen.

Andererseits spielte ich seit einigen Wochen das Killerspiel Jack Orlando. Das war auch ab zwölf freigegeben, was ich zunächst gar nicht vermutet hätte. Es sah nämlich gar nicht wie etwas für Erwachsene aus, eher wie ein etwas ernsterer Zeichentrickfilm. Als ich dann im Hotelzimmer eines Mafioso einen Koffer mit einer auseinandergebauten Maschinenpistole gefunden hatte, hatte ich am ganzen Leib gezittert. Nicht aus Furcht jedoch, sondern allein wegen des Nervenkitzels.

Es war jedoch nicht zu erwarten, dass es bei diesem Film genauso sein würde. Hot Shots! Der zweite Versuch nämlich war kein Trick-, sondern ein Spielfilm. Ich überlegte fieberhaft, was ich wohl machen würde, wenn jemand auf dem Bildschirm eine Pistole ziehen würde. Mir einfach die Augen und Ohren zuhalten konnte ich nicht, das würden die anderen sofort bemerken. Und dann würden sie mich auslachen. Andere Jungs hatten nämlich nicht nur kein Problem damit, wenn im Fernsehen gemordet wurde. Sie fanden es toll. Sie konnten nicht verstehen, dass jemand keinen Gefallen daran finden konnte.

Als der Film dann aber losging, merkte ich schnell, dass meine Sorgen völlig unbegründet gewesen war. Zwar wurde tatsächlich gekämpft, doch nicht in einer Weise, die besonders ernst zu nehmen war. Zwei Männer, die eigentlich gegeneinander boxen sollten, tauchten erst ihre Handschuhe in Bonbons und Gummibärchen, dann kitzelte der eine den anderen durch. Alle lachten und ich lachte mit ihnen. Das war mal genau mein Humor.

Bei der Jugendherberge angekommen, tauschten Vinzent und ich uns über die lustigsten Sequenzen des Films aus. Besonders angetan hatte es ihm die Stelle, bei der der amerikanische Präsident dem Oberbösewicht mit einem Blasebalg das Gesicht aufpumpt. Immer wieder machte er es nach und immer wieder lachte ich darüber. Der Witz verlor einfach nichts an Wirkung. Noch im Bett kicherten wir. Weit weg schienen die Michaelskirche und das verdammte Verbeugungsritual.