Berichtenswerte Erlebnisse

Perlen von Holstein Folge 32

Eine Wüste war es, die da an den Fenstern unseres Busses vorbeisauste. Das behauptete zumindest Marc. Ich war mir da nicht ganz so sicher. In einer Wüste nämlich gab es nach allem, was ich bisher gehört hatte, Sand, nichts als Sand. Eine Straße zu bauen lohnte sich da nicht. Sie würde doch nur vom Sand überdeckt werden oder gleich darin versunken. Die Straße, über die wir fuhren, war weit davon entfernt. Sie schlängelte sich zwischen allerlei Felsformationen hindurch, von denen einige hoch in den Himmel ragten. So etwas sah man doch nicht in der Wüste.

Ich änderte meine Meinung, als wir eine kurze Rast einlegten. Draußen war es unerträglich heiß. Es vergingen nur wenige Sekunden bis ich beschloss, auf dem Absatz kehrt zu machen und mich wieder hinein zu begeben. Mochten die Beine auch noch so sehr kribbeln, das war mir ein bisschen Auslauf nicht wert. Fürwahr, wir waren hier in der Wüste.

Der Grund dafür war, dass wir zum Toten Meer wollten. Das Tote Meer hieß Totes Meer, weil ihn ihm so viel Salz drinnen war, dass keine Fische darin leben konnten. Menschen aber konnten dort baden und brauchten keine Angst haben, zu ertrinken. Man schwamm immer an der Oberfläche, egal wie dick und schwer man war. Viele machten sich einen Jux daraus, indem sie sich auf die Oberfläche legten und Zeitung lasen. Genau das hatte ich heute eigentlich auch vorgehabt. Doch bei Begutachtung des Inhalts meines Rucksacks war ich zu dem Schluss gelangt: Ich hatte einen gewichtigen Grund, es bleiben zu lassen.

«Ach, Lenni-Löwe, jetzt hast du also deine Badehose vergessen und willst nicht mit uns ins Tote Meer gehen? Das ist doch jetzt ehrlich mal doof.»

Es war Vinzents Mutter, die da sprach.

Ich nickte.

«Glaubst du nicht, du kannst auch einfach so, ohne Badehose, reingehen?»

«Dann sieht man mich doch, wie ich nackt bin!»

«Aber im Wasser ist das doch egal, da sieht das doch keiner.»

«Trotzdem!»

«Aber guck mal, du hast doch so eine tolle kurze Hose an, die sieht doch fast aus wie eine Badehose. Geh doch einfach damit rein!»

«Aber dann ist die ja nass und ich kann mich nicht umziehen!»

«Dann wickelst du halt danach ein Handtuch darum.»

«Nein, das ist doch voll peinlich!»

«Ach, was ist denn daran peinlich? Wenn wir früher zum Fasching als Römer gehen wollten, haben wir das auch immer gemacht. Weißt du, damals gab es noch nicht solche fertigen Kostüme zu kaufen wie heute, da musste man das noch selber machen.»

Jetzt ging das schon wieder los. Immer diese Geschichten von den Erwachsenen, dass es früher kein teures Spielzeug und nur drei Fernsehprogramme gegeben hatte. Das war ja wirklich zu bedauern, aber doch noch lange kein Grund in einer normalen Hose schwimmen zu gehen.

Ich schüttelte energisch den Kopf und drehte mich zur Scheibe. Ein eindeutiges Signal. Doch Vinzents Mutter ließ nicht locker.

«Ach, Lenni-Löwe, jetzt stell dir mal vor: Gleich baden alle im Toten Meer, nur du nicht! Und wenn dich dann später jemand fragt: ‹Was hast du in Israel so gemacht?›, wirst du ihm erzählen müssen, dass du zwar am Toten Meer, aber nicht drinnen warst. Wirst du dich dann nicht ganz furchtbar ärgern?»

Ich gab nach. Weil sie die besseren Argumente hatte. Und weil sie mich nun vielleicht endlich in Ruhe lassen würde.

Sie ließ mich jedoch nicht in Ruhe, sondern stellte sicher, dass ich das volle Programm machte: Drückte mir beim Aussteigen einen Prospekt in die Hand, damit ich so tun konnte, als würde ich ihn angeregt lesen, während ich durch das Wasser trieb. Ich gab mir redlich Mühe, dies als ein herausragendes Erlebnis zu empfinden, kam aber schnell zu dem Schluss, dass das aussichtslos war. Es war eben doch nur eine Spielart des Sightseeings. Doch würde es wohl tatsächlich das sein, wovon ich erzählte, wenn meine Lehrerin mich fragte: ‹Was hast du in Israel so gemacht?›

Auf dem Rückweg machten wir an einer Raststätte halt. Sie lag mitten in der Wüste und war entsprechend ausgestattet. Einziger Gastronomiebetrieb war ein Fast-Food-Restaurant, sodass die Erwachsenen keine andere Wahl hatten als uns hier essen zu lassen. Wir freuten uns riesig. Es gab dicke Burger und Cola. Eine willkommene Abwechslung zu dem Gesundfraß, der uns seit nun fast einer Woche jeden Tag vorgesetzt wurde. Um was für einen Laden es sich handelte, konnte ich nicht sagen. McDonald’s oder Burger King war es jedenfalls nicht: Auf den Tüten war Junge abgebildet, der gierig vor sich hin sabberte. Augenscheinlich hatte er großen Appetit.

Während ich mir das zum Vorbild nahm, stimmten einige Knaben auf der anderen Seite des Saales eine vertraute Melodie an: «Unser Leben – unser Leben – unser Leben ist ein Scha-a-a-a-atten»

Die neben ihnen saßen, legten ihre Burger beiseite und machten mit. Bald hatte der ganze Saal mit eingestimmt. Freilich waren wir alle nicht so ganz bei der Sache: Die Gruftchöre wurden vom Colageschlürfe derer begleitet, die nicht dran waren. Dennoch klappte alles erstaunlich reibungslos. Nicht einmal beim ‹Ach, wie flüchtig, ach, wie nichtig› und ‹Ach, wie nichtig, ach, wie flüchtig› erlaubte sich jemand einen Schnitzer.

Es verstand sich von selbst, dass Frau Siebenkittel aus dem Schwärmen nicht mehr herauskam: «Ach, Leute, das finde ich ja mal ganz große Klasse, dass ihr einfach so unser schwerstes Stück singt und das ohne einen einzigen Einsatz von mir zu bekommen! Ich bin echt ganz begeistert von euch, heute habt ihr mich wirklich verblüfft!»

Ob sie wohl davon erzählen würde, wenn jemand sie fragte: ‹Was hast du in Israel so gemacht?› Vom Toten Meer hatte sie vorhin jedenfalls nicht annähernd so geschwärmt.

Derweil grassierte in unserem Chor irgendeine israelische Krankheit. Einige Knaben hatten den Tag im Kibbuz verbringen müssen. Sie hatten nun nichts, von dem sie erzählen konnten, wenn jemand sie fragte: ‹Was hast du in Israel so gemacht?› Unter den Kranken war auch mein Zimmergenosse Türschubser-Moritz. Ich schätzte ihn an sich nicht besonders. Er hatte nämlich eine frappierende Ähnlichkeit mit meinem großen Bruder: Sobald irgendein Witz erzählt wurde und ich lachte, weil alle lachten, wurde ich von ihm zurechtgestutzt. «Hallo? Du hast das doch mal derbe gar nicht verstanden!»

Heute aber war er ganz friedlich. Er lag in seinem Bett und bat mich, ihm irgendwas zu erzählen.

«Ich kann dir die Karlsson-vom-Dach-Kassette aufsagen», sagte ich.

Karlsson vom Dach war nämlich etwas, von dem ich immer wieder gerne erzählte. Auch wenn niemand fragte: ‹Was hast du gestern so gemacht?›

Moritz war Feuer und Flamme.

«Ja, derbe geil, mach mal.»

Und so legte ich los: «Lillebror wohnt mit Mama und Papa und mit Birger und Betty in einem ganz gewöhnlichen Haus in einer ganz gewöhnlichen Straße in Stockholm –»

Eine Stunde lang redete ich, nur unterbrochen von meinen eigenen Lachanfällen. Türschubser-Moritz stutzte mich dafür nicht zurecht. An Karlsson vom Dach gab es schließlich nichts, das man nicht verstehen konnte.

Bald war er da, der letzte Abend in Israel. Ein Abend mit Konzert. Bevor es losging, probten wir noch einmal das sonderbare neumodische Stück, das wir nur für die Israel-Reise einstudiert hatten. Tishri hieß es und war auf Neuhebräisch, die Sprache der Juden. Unsere Chorleiterin war bemüht gewesen, den Silben etwas von ihrer Fremdartigkeit zu nehmen und das Stück in Tischdienst umgetauft. Das hätte meine Abneigung dagegen wohl eher noch verstärkt, wenn ich welche gehabt hätte, denn eigentlich fand ich die Melodien davon sehr schön. Ich kicherte dennoch als nun Vinzent seinen ganz eigenen Versuch unternahm, den Silben etwas von ihrer Fremdartigkeit zu nehmen. Aus ‹Bo-abei-cha-in-cheha› machte er ‹Bauarbeiter im BH›. Das Ergebnis klang wie folgt:

music snippet

Wir lachten uns halbtot.

Das Konzert bestritten wir gemeinsam mit einem israelischen Knabenchor. Beim anschließenden gemeinsamen Essen hatten wir Gelegenheit, über Landesgrenzen hinweg Freundschaften fürs Leben zu schließen. Ich war jedoch weniger daran interessiert als vielmehr an der Pizza, die in rauen Mengen ausgegeben wurde. Welch ein wunderschöner letzter Abend. Davon würde ich doch gleich als erstes erzählen, wenn jemand fragte: ‹Was hast du in Israel so gemacht?›

Am nächsten Tag traten wir den Rückflug an, zumindest die meisten von uns. Frau Siebenkittel, Vinzent, seine Mutter und noch einige andere reisten weiter nach Ägypten. Auch ich kam nicht mit nach Hamburg. Beim Zwischenstopp am Münchener Flughafen wurde ich von meinem Vater und meinem großen Bruder abgeholt. Wir fuhren nach Inzell, wo ich die zweite Ferienwoche verbringen sollte. Sie bot zwar nicht ganz so viel Erzählenswertes wie die erste, war dafür aber angenehm frei von lästigem Sightseeing.