Auf ins gelobte Land

Perlen von Holstein Folge 29

Oktober 1998

Meine Reise nach Israel begann wie Reisen im Hause Schuett nun einmal begannen: Weckzeit war vier Uhr morgens. Meine Mutter platzierte mich vor dem Fernseher und begann, letzte Sachen in meinem Koffer zu stopfen.

Ich machte mir gar nicht erst die Mühe, nach einem für mich geeigneten Programm zu suchen. Um diese Uhrzeit lief erfahrungsgemäß sowieso nur Erwachsenenfernsehen. Im Ersten zeigten sie gerade immerhin nichts möglicherweise Gruseliges, weswegen ich es einfach laufen ließ. Zuerst kam eine Reportage über Rentner, die ihre Gasrechnung nicht bezahlen konnten, dann die Tagesschau.

«Mama, was heißt erdrosseln?»

«Erdrosseln ist jemanden mit einem Seil oder sowas erwürgen.»

Es war doch immer wieder erstaunlich, wie viele Todesarten nur Spielarten des Erstickens waren. Man konnte wirklich nicht oft genug betonen, wie wichtig Sauerstoff war.

Zum zweiten Mal in meinem Leben fuhren wir mit einem Nachtbus. Er war kaum größer als ein VW-Bus. Selbst das war aber schon ein Überangebot, außer meiner Mutter und mir wollte keiner um diese Zeit nach Altona fahren. Nur ein einziges Mal machte der Fahrer halt. An der Haltestelle BAB-Auffahrt Waltershof wollte ein Herr zusteigen. In der Hand trug er eine Bierflasche.

«Die Flasche bleibt aber draußen», sagte der Busfahrer.

«Nein! Das is’ meine Flasche!», erwiderte der Herr.

«Das kann sie gerne sein, sie bleibt trotzdem draußen.»

«Nein! Das is’ meine Flasche!»

«Die Flasche bleibt draußen.»

Unter leisen Verwünschungen verließ der Herr den Bus. Der Fahrer schloss die Türen, wir fuhren weiter. Meine Mutter und ich lachten.

Am Flughafen angekommen, brachte meine Mutter mich zum Chortreffpunkt und verschwand dann schnell. Ein ganz und gar ungewöhnliches Verhalten bei ihr. Es war wohl der Herrgottsfrühe geschuldet.

Wir wurden von Schalter zu Schalter, von Kontrolle zu Kontrolle, von Sitzecke zu Sitzecke gelotst. Als wir endlich die Gangway durchquerten, merkte ich, wie mir mulmig zumute wurde. Am anderen Ende dieses kahlen Weges wartete unser Flugzeug auf uns. Gleich würden wir in über zehntausend Meter Höhe steigen, zehn Mal höher als mein Schulweg weit war. Und der kam mir jeden Tag aufs Neue unglaublich weit vor. Wenn das Flugzeug abstürzte, würden wir sehr lange und sehr tief fallen. Wie oft es wohl vorkam, dass so ein Flieger vom Himmel fiel? Wenn ich in Gedanken mal die Nachrichtensendungen der letzten Wochen Revue passieren ließ, eigentlich doch ständig.

Im Bauch des Flugzeugs nahm meine Nervosität weiter zu. Der Sicherheitsgurt an meinem Stuhl war alles andere als vertrauenserweckend. Es war ein einfacher Beckengurt ohne Schulterriemen, der einem den Hals wund schürfte, wie ich das aus Autos kannte. Und die Fensterscheibe bestand ja überhaupt nicht aus festem, Panzerglas, wie der gesunde Menschenverstand es einen vermuten ließ. Er war aus weichem Plastik. Eine Berührung mit dem Finger genügte, um ihn zu biegen. Und so etwas sollte einem das Leben retten, wenn man aus mehr als zehntausend Metern Höhe in einen Acker krachte? Das reichte doch nicht einmal aus, uns dort oben in den Lüften vor der Kälte zu schützen.

Wir waren schon einige Minuten auf dem Hamburger Flughafen herumgefahren, als unsere Maschine auf einmal heftig beschleunigte. Wenige Augenblicke später hoben wir ab. In meinem Bauch machte sich ein angenehmes Kribbeln breit. Da kam mir meine Angst plötzlich unglaublich albern vor. Mensch, Lennart, wie viele Leute kennst du, die ständig irgendwohin fliegen und noch immer völlig unversehrt sind!

Während wir immer weiter emporstiegen, spürte ich einen Druck auf meinen Ohren und merkte, dass ich immer schlechter hören konnte. Ich hielt mir die Nase zu und atmete einmal kräftig aus. Ein Trick, den ich gelernt hatte, als wir mit einer Kindergruppe auf irgendeiner Wiese gewesen waren und ich mir die Zeit hatte vertreiben müssen.

Eine Frau mit einem Getränkewagen kam und fragte jeden, ob er etwas zu trinken haben wollte.

«Nee!», antwortete ich.

Nachdem alle anderen versorgt waren, wandte sie sich noch einmal an mich: «Und du möchtest wirklich nichts?» Sie klang wie jene Art Mutter, die mit jedem Kind so redete, als ob es das eigene wäre.

Ich schüttelte dennoch mit dem Kopf. Ich wollte nicht zum tausendsten Mal erklären müssen, dass meine Geschwister und ich wohl die einzigen Kinder auf diesem Planeten waren, die kein Taschengeld bekamen.

Der Flug hatte kaum begonnen, da war er auch schon wieder vorbei. Mit einem sanften Ruck setzten wir auf der Landebahn des Münchener Flughafens auf. Die Menschen um mich herum begannen zu applaudieren. Ich verwunderte mich doch sehr darüber. Auf der Fähre klatschte nach dem Anlegen auch niemand. Dabei konnte man dabei eine Menge falsch machen. Das wusste jeder, der schon einmal nach einem heftigem Rums beinahe irgendwo gegengestoßen war. Nach wenigen Sekunden entschied ich aber, einfach mitzumachen. Das war wohl so etwas, was man eben tat.

Beim Aussteigen ließen wir uns Zeit, der Flieger nach Tel Aviv sollte erst in vier Stunden abheben. Ich rechnete mit dem Schlimmsten, was das Verstreichen dieser Zeit anbelangte, doch damit sollte mich geirrt haben. Der Münchener Flughafen nämlich entpuppte sich als ein Abenteuerspielplatz mit vielen Verletzungsmöglichkeiten. Die größte Attraktion waren dabei ohne Zweifel die langen Rolltreppen, die aber keine Treppen, sondern vollkommen flach waren. Wir rannten darüber, was die Füße hergaben.

Der Knabe, der neben mir gelaufen war, war überzeugt: «Wir waren jetzt so schnell wie ein Auto, bestimmt dreißig bis vierzig KMH!»

Ich fand das zwar doch ein wenig übertrieben, stimmte aber darin mit ihm überein, dass wir wirklich ziemlich schnell gewesen waren. Es war wirklich schade, dass wir schon ins Flugzeug mussten.

Kaum, dass wir uns wieder in mehr als zehntausend Metern Höhe befanden, kam wieder eine Frau mit einem Getränkewagen. Ein Moment, auf den ich seit dem Start gewartet hatte. Ich wusste, was ich vorhatte, barg das Risiko in sich, mich bis auf die Knochen zu blamieren. Doch ich würde jetzt bestimmt keinen Rückzieher machen, ich wollte Gewissheit haben. Außerdem war es sowieso so eine Spezialfähigkeit von mir, mich bis auf die Knochen zu blamieren. Ob ich das nun gezielt tat oder nicht.

«Eine Cola, bitte», sagte ich.

Und tatsächlich: Die Frau schenkte mir ein, ohne auch nur einen Pfennig dafür zu verlangen. Warum hatte mir das denn niemand vorher gesagt?

Die zweite Etappe dauerte wesentlich länger als die erste und brachte die Erkenntnis mit sich, dass auch Fliegen irgendwann langweilig wurde. Nicht so langweilig wie Bahnfahren, aber langweilig genug. Einziger Hoffnungsschimmer war, dass es allmählich heiß in unserem Flugzeug zu werden begann. Das war zwar nicht sonderlich angenehm, aber ein Zeichen dafür, dass es nicht mehr weit sein konnte. Und tatsächlich: Eine Stunde später landeten wir endlich.

‹Welcome to Israel›, stand in großen Lettern am Terminalgebäude des Flughafens von Tel Aviv. Darunter vermutlich noch einmal das Gleiche in einer Schrift, die ich nicht lesen konnte. Viel interessanter war aber, was sich davor befand: Palmen. Ein klares Indiz dafür, dass wir dort Urlaub machten, wo alle Urlaub machen wollten: In einem fernen, warmen Land.

Im Reisebus ging es weiter zu unserem Kibbuz. Was das war, wusste ich von meiner Mutter. Sie hatte als Jugendliche eine Zeit lang in einem gewohnt und gearbeitet. Ein Kibbuz war ein Dorf, in dem allen alles gehörte und dessen Bewohner ihr Essen und ihre Kleidung selbst herstellten.

Der Anblick, der sich mir bei unserer Ankunft bot, erinnerte mich aber doch eher an eines jener bayerischen Feriendörfer, die wir ich mit meiner Familie bereist hatte. Auf einem Hügel in der Mitte stand ein großes Gebäude mit Außenterrasse und Parkplätzen, drum herum viele kleine Häuser Marke Fertigbauweise. Und ich hatte immer geglaubt, im Ausland wäre alles anders.

Die Zimmerverteilung ging ungewöhnlich reibungslos vonstatten. Viele waren nach der langen Fahrt erschöpft. Frau Siebenkittel wollte aber auf Nummer Sicher gehen: «Ich möchte euch bitten, jetzt alle ganz schnell die Zähne zu putzen und euch in die Betten zu legen und nicht noch lange Faxen zu machen. Für manche war das nämlich ein ganz furchtbar anstrengender Tag und die möchten jetzt schlafen. Lenni-Löwe zum Beispiel, der ist um vier aufgestanden!»

Ein anerkennendes Raunen erfüllte den Raum. Nach der Ansprache kam ein Knabe zu mir.

«Mensch, Lenni-Löwe», sagte er, «das ist ja voll heftig, dass du so früh aufstehen musstest. Ich wunder mich, wie du das überhaupt geschafft hast. Du bist jetzt bestimmt voll fertig, oder?»

«Nö», antwortete ich. Das entsprach zu meinem eigenen Erstaunen der Wahrheit.

«Doch, das bist du, das kann ich doch sehen, Mann. Ey, leg dich besser ganz schnell hin, wir haben einen anstrengenden Tag vor uns!»

Ich fand zwar noch immer nicht, dass ich erschöpft war, fühlte mich durch diese unverhoffte Zuwendung aber irgendwie geschmeichelt. Früh aufzustehen lohnte sich wohl doch. Und als ich dann im Bett lag, schlief ich tatsächlich sofort ein.