Die große Reise

Perlen von Holstein Folge 28

Vor einigen Monaten hatte meine Mutter mir Freudiges mitzuteilen gehabt.

«Lennart, weißt du eigentlich, dass ihr mit dem Chor im Herbst nach Israel fahren werdet?»

«Israel, ist das in der Türkei?»

«Haha, nein, das ist Istanbul. Israel ist ein Land und keine Stadt, aber das liegt nicht weit von der Türkei entfernt. Das heißt, du wirst das erste Mal in deinem Leben fliegen!»

Ich hatte mein Glück kaum fassen können. Endlich würde ich einmal Urlaub machen wie andere Leute.

«Cool!», hatte ich geantwortet. Ein denkbar aufrichtiger Jubel. Doch statt sich mit mir zu freuen, hatte meine Mutter eine ernste Miene aufgesetzt.

«Aber da ist noch etwas Anderes, worüber ich mit dir sprechen wollte. Israel ist das Land der Juden, die leben da seit dem Zweiten Weltkrieg. Also eigentlich haben die da ganz früher schon mal gelebt und dann lange Zeit kein eigenes Land gehabt. Und ich habe dir ja schon mal erzählt, was Deutschland den Juden angetan hat, und du weißt ja auch aus Filmen inzwischen einiges darüber.»

Ich hatte genickt. Natürlich wusste ich über den Zweiten Weltkrieg, Hitler und das KZ bereits unglaublich gut Bescheid. Genau genommen war es eines meiner Lieblingsthemen, das mich jedes Mal gebannt lauschen ließ. Meine Mutter hatte mir das erste Mal davon erzählt, als ich sieben gewesen war.

«Lennart, du weißt ja, dass es in Deutschland heute ganz viele Menschen gibt, die arbeitslos sind und deswegen kein Zuhause haben und auf der Straße leben müssen. Der Bettler vorhin in der U-Bahn zum Beispiel, der war auch arbeitslos. Und du musst wissen: Früher gab es mal eine Zeit, da hat es noch viel mehr Arbeitslose gegeben und anders als heute haben die keine Sozialhilfe bekommen, damit sie sich wenigstens was zu essen kaufen konnten. Und dann hat es einen Mann gegeben, der hieß Hitler, und der hat gesagt: Wenn ihr mich wählt, bekommt ihr alle Arbeit und ich werde Krieg anfangen und Deutschland wird größer werden! Und dann waren die alle ganz begeistert und haben ihn gewählt. Und als er dann an die Macht gekommen war, gab es dann auch erst mal Arbeit, weil für den Krieg mussten ja ganz viele Waffen gebaut werden. Und dann hat Deutschland Krieg angefangen mit ganz vielen Ländern. Mit Polen, mit Frankreich, mit Russland, mit England, mit Amerika. Und er hat den Leuten erzählt: Der Krieg wird zwei Monate dauern. Aber der Krieg hat sechs Jahre gedauert. Weißt du, die anderen Ländern haben sich natürlich gewehrt. Deswegen siehst du in Hamburg an vielen Ecken auch nur neue Häuser. Die Amerikaner und Engländer sind mit Flugzeugen hergekommen und haben die alten alle weggebombt.»

Darüber hatte ich mich doch ein wenig gewundert. Meine Mutter hatte sonst immer so positiv über die Engländer geredet. Sie waren sehr höflich, sagten immer brav ‹please› und ‹thank you› und drängelten sich nicht vor, wenn sie irgendwo anstanden. Außerdem schrieben sie ganz tolle Bücher. Und solche Menschen zerbombten also Städte. Dieser Hitler musste sie wirklich sehr wütend gemacht haben.

«Ist Deutschland denn größer geworden?», hatte ich gefragt.

«Deutschland ist kleiner geworden. Deutschland hat ganz große Gebiete abgeben müssen, viel größer als Hamburg. Aber wichtig ist nicht, ob ein Land groß ist, sondern dass es seinen Bewohnern gut geht. Und Hitler war ein ganz schlimmer Mensch! Der hat zum Beispiel die Wahlen abgeschafft, damit die Leute ihn nicht abwählen können, wenn sie ihn nicht mehr haben wollen. Und wenn du einen Witz über ihn erzählt hättest, so wie viele Leute Witze über Helmut Kohl machen, und jemand hätte das gehört und der Polizei gesagt, dann wärst du in den Knast gekommen!»

«Kann man Wahlen abschaffen?»

«Heute nicht mehr, aber damals konnte man das.»

«Und warum haben die, die vor Hitler da waren, das nicht gemacht?»

«Naja, die haben sich wohl gedacht: Wenn die Leute mich nicht mehr wollen, sollen sie mich abwählen dürfen. Aber Hitler hat noch etwas viel Schlimmeres gemacht. Weißt du: Früher, da lebten in Deutschland ganz viele Juden, so wie hier heute Türken leben, aber viel mehr und die lebten hier auch schon viel länger und wussten teilweise gar nicht mehr, dass sie Juden waren. Und die kamen dann alle ins KZ und wurden da dann vergast. Oder sie mussten so schwer arbeiten, dass die daran gestorben sind.»

«Was heißt KZ?»

«Konzentrationslager. Ja, KZ klingt harmlos, als wäre das irgendein Amt, aber das war etwas ganz Schreckliches! Da sind ganz viele Menschen umgebracht worden!»

Sie hatte mir das Buch Das Kind im Koffer zu lesen und die Kassette Als Hitler das rosa Kaninchen stahl zu hören gegeben und mir außerdem Fotos von abgemagerten KZ-Häftlingen gezeigt. Ich war fassungslos gewesen. Niemals hätte ich vorher für möglich gehalten, dass ein Mensch so dünn werden konnte, dass man seine Knochen unter der Haut hervortreten sah. Erleichterung hatte sich bei mir breit gemacht, als meine Mutter mir dann erklärt hatte, dass Deutschland wohl keine weiteren Weltkriege mehr anfangen würde. Die Amerikaner, Engländer und Franzosen waren jetzt unsere Freunde, wir hatten unsere Lektion gelernt.

Ja, über den Zweiten Weltkrieg, Hitler und das KZ wusste ich Bescheid. Meine Mutter hatte dennoch guten Grund, mich noch einmal an das zu erinnern, was vor über fünfzig Jahren passiert war.

«Ja, also, wenn ihr in Israel seid, müsst ihr ein bisschen aufpassen, was ihr sagt. Da leben nämlich noch immer ganz viele, die im KZ gewesen sind und die kein Deutsch mehr sprechen wollen, es aber natürlich immer noch verstehen. Und wenn ihr da einen blöden Spruch oder so macht, kann es sein, dass ihr richtig Ärger kriegt.»

Kurz darauf – ich sollte irgendwann ein Schreiben des Chores finden, in dem dazu aufgefordert wurde – hatten wir gemeinsam Schindlers Liste gesehen. Ein Film, der nicht so leicht zu verkraften war. Alleine, wie oft die KZ-Aufseher jemanden erschossen, nur weil er etwas nicht so machte, wie sie es wollten. Und dann gab es noch die Stelle, in der eine nackte Menschenmenge in einen Raum mit ganz vielen Duschen geführt wurde. Sie schrien, denn sie dachten, dass sie jetzt vergast würden. Manch eine Szene gab mir aber auch Rätsel auf. Etwa die, in der einige Frauen sich gegenseitig das Gesicht dunkel schminkten, um nicht in die Gaskammer, sondern ins Arbeitslager zu kommen.

«Mama, warum wollen die denn ins Arbeitslager? Da sterben die doch viel langsamer, das ist doch viel schlimmer!»

«Die hoffen, dass sie das Arbeitslager doch irgendwie überleben werden. Außerdem will der Mensch leben, egal wie schrecklich alles für ihn ist.»

Zum Schluss war Oskar Schindler in Tränen ausgebrochen, weil er mehr Menschen hätte retten können. Auch ich hatte bitterlich zu weinen begonnen. Nein, ich würde bestimmt keine blöden Sprüche in Israel machen. Ich wusste über den Zweiten Weltkrieg, Hitler und das KZ Bescheid.