Plattdütsch Wiehnacht

Perlen von Holstein Folge 27

September 1998

Mehr als acht Monate war Weihnachten mittlerweile her. Und wie meine Mutter jedes Jahr pünktlich zu Silvester sämtliche Kassetten mit Weihnachtsliedern spurlos aus unseren Zimmern verschwinden ließ, so hatte Frau Siebenkittel uns seither kein Notenblatt mit weihnachtlicher Musik mehr anrühren lassen. Ich konnte das sehr gut verstehen, ich wusste: niemand würde sie hören wollen. Das Fest der Liebe war bei den Menschen elf Monate lang erstaunlich unerwünscht.

Deshalb traute ich mich nur im stillen Kämmerlein, In dulci jubilo und Fröhlich soll mein Herze springen zu singen. Immer wieder tat ich es, um zu prüfen, ob ich auch ja kein Wort vergessen hatte. Ich wollte mir ihre Farbe, Freude und Festlichkeit bewahren. Und vor allem nicht noch einmal gemeinsam mit den Neuen abziehen müssen.

Als unsere Chorleiterin uns neulich völlig überraschend doch neue Weihnachtsnoten ausgeteilt hatte, hatte ich mich zunächst gefreut. Dann aber hatte ich einen Blick auf die Liedernamen geworfen. Ach, du liebe Güte, das war ja Plattdeutsch!

Mit dem Plattdeutschen war ich zum ersten Mal nach unserem Umzug nach Finkenwerder in Berührung gekommen. Es las sich ein wenig wie Englisch und war beinahe genauso schwer zu verstehen, aber im Gegensatz dazu nicht cool. Es war eine Sprache, die nur von alten Menschen gesprochen wurde. Eine, die keinen Computer und keinen Fernseher kannte. Einige meiner Klassenkameraden lernten sie im Wahlpflichtunterricht. Leierte einer von ihnen sein mühsam angeeignetes Gedicht herunter, verdrehte ich meist nur die Augen. Vielleicht aber wäre ich dem Ganzen mit mehr Wohlwollen begegnet, hätte meine Klassenlehrerin nicht beständig plattdeutsche Sprachfetzen in ihre Schimpftiraden eingebaut. Ging ihr zum Beispiel etwas nicht schnell genug, sagte sie immer: ‹Nun mal ’n büschen to!›

Musikalisch wurden selbst meine schlimmsten Erwartungen noch übertroffen. Da war keine Farbe, Freude und Festlichkeit. Das Klocken-Lüder-Leed war eine plattdeutsche Version des schrecklichen englischen Weihnachtsliedes Ding! Dong! Merrily on High. Mannlüü’ van Bethlehem war eine plattdeutsche Version des schrecklichen plattdeutschen Weihnachtsliedes Mannlüü’ van Bethlehem. Beide Stücke einte, dass sie atemberaubend langweilig waren, und, nun ja, irgendwie omahaft klangen. Eben wie eines der Gedichte aus besagtem Wahlpflichtkurs.

Regelrechtes Mitleid empfand ich mit unserem Favoriten Benedict, der zusätzlich As ik bi Schaap un Lammer weer zu singen hatte. Das hatte ich schon nicht gemocht, als wir es in der Schule unter dem Namen Als ich bei meinen Schafen wacht kennengelernt hatten. Genau genommen war mir darüber die Galle hochgekommen. Da erzählte so einer, dass ein Engel zu ihm gekommen war und tat so, als wäre das ausschließlich ihm passiert. Dabei waren in Wirklichkeit ganz viele Engel gekommen und allen Hirten in Bethlehem erschienen, nicht nur diesem Wichtigtuer. Und wenn ich dann auch noch hörte, wie Benedict statt ‹Des bin ich froh› «Dat freit mi so» sang, war ich heilfroh, kein Favorit zu sein.

Wenn Frau Siebenkittel mit diesen Machwerken ebenso nichts anfangen konnte, so ließ sie es sich nicht anmerken. Wir probten sie wie jedes andere Stück auch. Ausgesucht aber hatte unsere Chorleiterin sie nicht. Unser Chor war für eine CD-Produktion engagiert worden. Eine Aufgabe, der ich mit Missmut entgegen sah und das war nicht einmal nur dem Repertoire geschuldet. Wenn ich mir früher beim Musikhören vorzustellen versucht hatte, wie so eine Kassette oder CD entstand, hatte ich gut gelaunte Menschen vor mir gesehen, die fröhlich ihre Lieder sangen. Aber früher hatte ich ja auch gedacht, dass es Spaß machen würde, im Fernsehen aufzutreten.

Meine Befürchtungen sollten sich bewahrheiten.

Die Tonaufnahmen in St. Jacobi verliefen beinahe haargenau wie die Filmaufzeichnungen in der Schwedischen Seemannskirche verlaufen waren. Über zwei Stunden lang mussten wir beinahe ununterbrochen stehen und immer wieder die gleichen Töne singen – zu Mannlüü’ van Bethlehem steuerten wir gerade einmal eine Strophe bei. Es gab eigentlich nur zwei nennenswerte Unterschiede: Zum Einen wurden wir nur von einem jungen Herren herumkommandiert, zum Anderen lief dieser nicht mit einer Kamera umher, sondern saß irgendwo versteckt und sprach über Lautsprecher zu uns. Ich konnte dementsprechend nicht genau sagen, ob es wirklich ein junger Herr war, der uns da Anweisungen gab. Es war aber naheliegend.

Einziger Lichtblick nach eineinhalb Stunden Tortur war, dass mein Vater hereinkam. Und er hatte meinen großen Bruder mitgebracht. Endlich würde auch der uns einmal singen hören.

Ich rieb mir innerlich die Hände.

So gut mein großer Bruder und ich uns verstanden, seit drei Jahren war da etwas, das unser Verhältnis überschattete: Meine Liebe zur klassischen Musik.

‹Du hörst das doch nur, weil Mama und Papa das gut finden›, sagte er. Nannte mich einen Schmeichler, einen Schleimer, einen Heuchler. Was ein Schmeichler war, hatte mir einmal eine Lehrerin erklärt: Das war jemand, der zu ihr ging und ihr die Tasche tragen wollte. Was ein Schleimer oder ein Heuchler war, wusste ich nicht genau. Ich konnte aber wohl davon ausgehen, dass es was ganz Ähnliches bedeutete.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Bruderzwist ist etwas, das in den besten Familien vorkommt. Rudolf Hindemith war auf dem Cello sicher kaum weniger begabt als sein Bruder Paul auf der Bratsche. Dennoch fühlte er sich hinter diesem zurückgesetzt. Zwanzig Jahre machte er das mit, dann wandte er sich frustriert dem Jazz zu.

Es verstand sich von selbst, dass mein Bruder meine Chormitgliedschaft niemals gutgeheißen hatte. Auch sie war ihm immer nur ein Auswuchs meiner Heuchelei gewesen. Doch nun, wo er uns sah und wo er uns hörte, merkte er bestimmt, wie sehr er sich irrte. Sicher war er schon ganz neidisch, dass ich in so einem tollen Chor mitsingen durfte und er nicht. Jetzt bloß nicht unprofessionell wirken, Lennart! Er soll nicht am Ende daran zweifeln müssen, dass du hier wirklich Mitglied bist!

Ich spannte meine Brust- und meine Rückenmuskeln so fest an wie ich konnte. Das hatte ja schon beim Chorwettbewerb hervorragend funktioniert. Immer wieder schielte ich zu meinem Bruder. Er ließ keine Gefühlsregung erkennen, sein Gesicht war ausdruckslos. Doch war das bestimmt nur, weil er so überwältigt von dem war, was er hörte. Mir bliebe bestimmt auch die Spucke weg, wenn ich herausbekommen würde, dass er bei etwas derart Großem dabei sein durfte.

Nachdem wir unser Werk getan hatten, marschierte ich schnurstracks auf meine zwei Familienangehörigen zu. Die Meinung meines Bruders interessierte mich wirklich brennend, doch ich ließ mir nichts anmerken. Er würde schon von ganz alleine anfangen zu reden.

Eine Einschätzung, mit der ich goldrichtig lag.

«Ey, Mann, was war das denn? Alle stehen da total locker und du bist voll verkrampft, ey!»

Wie bitte? Was hieß hier verkrampft? Ich hatte gestanden, wie wir stehen sollten und wie alle gestanden hatten: ruhig und kerzengrade. Was gab es daran auszusetzen?

Aber was regte ich mich auf. Er sagte das doch nur, weil er zu unserem Gesang nichts sagen wollte. Weil es daran nichts zu kritisieren gab. Und weil er doch sowieso überhaupt nichts davon verstand. Er mit seinem dämlichen Yamaha-Keyboard, auf dem er immerzu den Cancan spielte. Ein Stück, das ich schon gehasst hatte, bevor ich gewusst hatte, wie es hieß. Wie hatte ich von so einem Menschen ein nur im Mindesten qualifiziertes Urteil erwarten können?