Der große Augenblick

Perlen von Holstein Folge 21

So eine Chorkleidung war schon eine ganz schön komplizierte Sache, wenn die Mutter nicht da war. Doch konnte ich beim Chorwettbewerb ja unmöglich ohne auftreten. Ich stellte mich der Herausforderung: zog mir das Hemd über, steckte die Knöpfe in die mir passend erscheinenden Löcher, stopfte alles so gut es ging in die Hose und stülpte mir dann den Pullover darüber. Voilá, fertig war der Chorknabe.

Dachte ich.

«Lenni-Löwe, deine Chorkleidung sieht ja aus wie ein Schluck Wasser in der Kurve!», sagte Frau Siebenkittel.

‹Es gibt Geschickte und Gesandte›, hätte Opa Max jetzt gesagt. Doch hätte Frau Siebenkittel wohl nicht einmal das gelten lassen. Sie rannte auf mich los und – mir nichts, dir nichts – zog sie mir den Chorpullover über das Gesicht. Dann griff sie sich das Hemd, riss es auf, steckte sämtliche Knöpfe in die richtigen Löcher und zog alles gerade.

«So, Lenni-Löwe, und jetzt setzt du dich irgendwo ganz ruhig hin! Ich will nicht, dass du beim Chorwettbewerb mit schiefer Chorkleidung auftrittst, ja?»

Ich nickte.

Wir befanden uns im Heim der Regenburger Domspatzen, in einem Raum direkt neben der Bühne. Hier sollten wir bleiben, bis wir aufgerufen wurden. Jetzt, da auch die Chorkleidung des Letzten endlich richtig saß, konnten wir nichts weiter tun als warten. Manche standen, die meisten aber saßen. Die einen unterhielten sich oder sangen vor sich hin, andere, besonders die Männer, sagten nichts, sondern starrten nur auf den Boden. Unsere Chorleiterin rannte umher und gab letzte Anweisungen, ich hingegen war völlig ruhig. Chorauftritte machten mir keine Angst.

Vor einigen Wochen hatten wir einen schweren Schlag hinnehmen müssen: Unser Favorit war ausgefallen. Frau Siebenkittel hatte ihn zuvor noch gewarnt: «Christian, wenn du vor dem Chorwettbewerb in den Stimmbruch kommst, dann schneide ich dir was ab, hörst du?» Das mochte den Jungen in Angst und Schrecken versetzt haben – selbst Männer versetzte es in Angst und Schrecken, wenn unsere nur Chorleiterin sagte: «Sonst gibt’s Zunder!» Den Lauf der Dinge aber konnte auch sie nicht ändern. Es war gekommen, wie es kommen musste. Wir würden wohl ohne seine Stimme auskommen müssen.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Johann Mattheson war kein Freund von Chorknaben, Ursache hierfür war der Stimmbruch. «Die Knaben sind wenig nutz. Ich meine die Kapellknaben. Ehe sie eine leidliche Fähigkeit zum Singen bekommen, ist die Diskantstimme fort.» Deshalb setzte er sich dafür ein, dass auch in den Kirchen die Sopranpartien von Frauen gesungen werden – in der Oper war das ja schon lange Zeit gang und gäbe. Eigentlich gab es nur eines, das er noch weniger leiden konnte als schlecht singende Knaben: gut singende Knaben. «Und wenn sie ein wenig mehr wissen, oder einen fertigeren Hals haben als andere, pflegen sie sich so viel einzubilden, dass ihr Wesen unleidlich ist, und hat doch keinen Verstand.»

Es war soweit.

«Auf die Bühne wird jetzt gebeten: Der Neue Knabenchor Hamburg

Und dann ging alles ganz schnell: Die Gespräche wurden beendet, manche mitten im Satz. Diejenigen, die eben noch auf den Boden gestarrt hatten, waren plötzlich voller Leben. Zielstrebig steuerte jeder auf seine Position in der Choraufstellung zu.

«So, Leute, und jetzt möchte ich bitte, dass ihr alles gebt!», sagte Frau Siebenkittel.

Während wir einzogen, klopfte sie jedem von uns auf die Schulter.

Der Raum aller Räume sah irgendwie erschreckend gewöhnlich aus. Der Boden bestand aus hellem Holz, ebenso die Bühne. Hinter den Sitzreihen waren Verandascheiben. Theoretisch ließen sie wohl mehr als genug Licht hinein. Dennoch wurden wir von klobigen Scheinwerfern angestrahlt. Außerdem hingen an den Wänden eine ganze Reihe von Lautsprechern.

Alles in allem: Neu und modern und chic, aber eben doch erschreckend gewöhnlich. Ich fühlte mich entfernt an jenen Saal im Bürgerhaus Wilhelmsburg erinnert, in dem sie damals Ein Freund für Löwe Boltan gespielt hatten.

Ich nutzte die verbleibenden Sekunden, um in Gedanken noch einmal all das durchzugehen, was ich in den vergangenen neun Monaten gelernt hatte. Mund auf, Nase auf, Augen auf, tief in den Bauch atmen. Ebenso beachtet werden mussten natürlich die drei Chorregeln, jede für sich eine feine Klugheit. Sie lauteten:

  1. Hohe Töne sind weit, nicht laut.

  2. Nebensilben sind leise.

  3. Beim Singen muss man übertreiben.

Zuletzt war es noch wichtig, ordentlich zu stehen. Andauernd amüsierte sich meine Mutter nach den Konzerten darüber, wie ich als Einziger mal wieder nicht still gestanden hätte. Dem versuchte ich entgegenzuwirken, indem ich meine Brust- und meine Rückenmuskeln so fest anspannte wie nur möglich. Das hatte meine Mutter bisher nicht von ihren Unterstellungen abrücken lassen, gab mir aber das Gefühl, alles richtig zu machen.

Ein Blitz durchzuckte mich: Frau Siebenkittel hob die Hände. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Wir atmeten ein und sangen los. Exsultate Deo, Salve Regina, den Domhardt. Eine Viertelstunde später war alles vorbei. Wir zogen ab.

Bereits auf dem Flur hatten einige sichtlich Probleme damit, ihre Jubelstimmung im Zaum zu halten. Im Aufenthaltsraum dann flogen die Mappen durch die Luft. Es war ein einziges Jauchzen und Frohlocken. Frau Siebenkittel dankte uns allen für diesen einwandfreien, perfekten, rundum gelungenen Auftritt, der besser gar nicht hätte laufen können. Und dann die Überraschung: «Ich möchte besonders danken Lenni-Löwe, der heute wirklich über sich hinausgewachsen ist: ganz toll gesungen hat, wunderbar mitgemacht hat, viel besser als sonst! Klasse, Lenni-Löwe!»

Die Männer johlten, einige von den älteren Knaben applaudierten. Ich merkte, wie ich knallrot wurde.

«Ey, Lenni-Löwe, ich fand auch, dass du heute voll gut gewesen bist!», sagte Otto-Thaddäus.

Otto-Thaddäus war jemand, der schon durch seinen Namen auffiel. Und damit stand er in seiner Familie nicht ganz alleine dar. Seine zahlreichen Brüder hießen auch alle irgendwas mit Otto. Otto Amadeus etwa. Oder Otto Maria. Trotz oder gerade wegen dieser Eigenart waren sie die Vorzeigefamilie der Staatlichen Jugendmusikschule Hamburg. Ständig wurde im Hausblatt, der Tonart, über sie berichtet. Mein Verhältnis zu Otto-Thaddäus jedoch war mehr als angespannt. Er hatte einmal auf Lenni-Löwe umgemünzte Blondinenwitze erzählt. Doch war das nicht die Stunde, einander wegen irgendwelcher uralten Geschichten böse zu sein.

«Danke!», sagte ich. Eine Reaktion, die ihn irgendwie zu erleichtern schien.

Im Anschluss an Frau Siebenkittels Ansprache kehrten wir in den Aufführungsraum zurück, um den anderen Chören beim Verlieren zuzusehen.

Der erste hieß Knabenchor Unser Lieben Frauen Bremen. Ich kicherte. Wie in drei Teufels Namen musste man veranlagt sein, einen Knabenchor, einen Chor für Kerle, Unser Lieben Frauen zu nennen? Aber bestimmt waren das gar keine Kerle. Bestimmt waren die alle schwul. Und die, die die nicht schwul waren, die waren Transen. Transe war bei uns in der Schule zur Zeit eine der beliebtesten Beleidigungen. Noch beliebter als homosexueller Bumsknochen. Und ich wusste sogar, was das bedeutete. Eine Transe war ein Mann, der lieber eine Frau sein wollte.

Die Sänger des Knabenchors der Singakademie Frankfurt Oder waren so gesehen alle Transen. Als Chorkleidung trugen sie knöchellange schwarze Röcke. Zwar wusste ich, dass es in Schottland durchaus üblich war, dass Männer Röcke trugen, doch, was sollte ich sagen: Wir waren hier nicht in Schottland. Immerhin aber war eines ihrer Stücke recht unterhaltsam. Es beinhaltete einen Sprechgesang, war also wie der Domhardt moderne Klassik, doch keine, die vom Tod handelte.

«Mein Freund ist wunderbar, wunderbar, wunderbar –»

Ein Rhythmus, bei dem jeder mit muss.

Ich wippte, schnippte und klatschte, bis Türschubser-Moritz, ein älterer Knabe, mich anfauchte, es sein zu lassen.

Den dritten der anderen Chöre, die Wuppertaler Kurrende, bekamen wir nicht zu hören. Der war dran gewesen, als wir im Aufenthaltsraum mit Jubeln beschäftigt gewesen war. Doch war nach dem eben Gebotenen kaum zu erwarten, dass die sonderlich besser gewesen waren. Alleine schon: Wuppertaler Kurrende! Was war das denn überhaupt für ein bescheuerter Name? Auf dem Weg nach draußen hörte ich, wie einige von den älteren Knaben ‹Schrubbertaler Schwulende› daraus bildeten. Ja, das war doch mal was. Das stand ihnen, diesen Nichtskönnern.

«Grüß die Schrubbertaler Schwulende von uns!», rief ich einem Jungen hinterher, der an unserem Bus vorbeilief.

Die Knaben um mich herum lachten.

Was für ein wunderbarer Tag.