Ein fürchterlich seltsames Bett

Perlen von Holstein Folge 17

Mai 1998

Mit dem Begriff Ferien verband ich vor allem eines: Selige Zeiten, in denen ich den lieben langen Tag zwischen Fernseher, Computer und Audioanlage hin und her wanderte. Besonders im Schlafanzug eine himmlische Art zu leben. Dieses Mal aber sollte alles anders sein. Eine arbeitsame Woche stand mir bevor. Wir fuhren zum Chorwochenende und zum Chorwettbewerb.

Das Chorwochenende fand in einem Ort namens Stelle statt. Es war mein Vater, der mich dorthin brachte.

Als wir am Steller Bahnhof aus dem Zug stiegen, beschloss er sogleich, den Fehler meiner Mutter nicht zu wiederholen. Er würdigte die Wegbeschreibung im Chorplan keines Blickes, sondern betrat mit mir die örtliche Kneipe, den Klimperkasten.

Ich überlegte kurz, ob das wohl der Laden war, in dem mein Klavierlehrer jede Woche mit seiner Jazz-Combo auftrat. Dann aber fiel mir ein, dass der ja Klimperkiste hieß und irgendwo in Hamburg stand.

Die Inneneinrichtung des Klimperkastens ließ mich an die des Hauses denken, das Karlsson vom Dach bewohnte. Überall lagen, hingen und standen Sachen herum: Fußbälle, Motorräder, E-Gitarren und noch vieles mehr. Prunkstück der Sammlung war aber eine lebensgroße Frauenpuppe mit Polizeimütze und rotem Badeanzug. Ebenso gab es natürlich einen Glücksspielautomaten. Bei seinem Anblick befiel mich ein Heißhunger auf jene Art Pommes, die es in solchen Kneipen immer zu essen gab.

Mein Vater jedoch wollte nichts kaufen. Er wollte nur den Weg wissen.

«Na, da ham Sie und der Junge sich aber was vorgenommen, von hier bis dahin ist’s ein ganz schönes Stück!», sagte der Mann hinter der Theke.

Er zeigte meinem Vater auf der Karte, wie wir am schnellsten zum Ziel gelangten. Währenddessen drückte mir seine Frau eine Tüte mit Weingummi in die Hand. Kraftnahrung, die ich gut gebrauchen konnte, denn, fürwahr: Mein Vater und ich hatten uns einiges vorgenommen.

Unser Weg führte uns aus dem eigentlichen Ort heraus auf eine Landstraße. Sie war ohne Bürgersteig. Und äußerst beliebt bei Schwerlastfahrern. Wir hielten uns so weit außen wie möglich. Eine Stimme in meinem Kopf sang Rolf Zuckowskis Wo kein Gehweg ist, da geh’ ich links.

Die nächste Straße war ein Feldweg, nein, sie war eine Traktorspur, die jemand in einen Acker gefahren hatte. Wir konnten von Glück reden, dass es nicht regnete. Einige hundert Meter später gelangten wir an eine Abzweigung. Dieses Feld wurde offenbar nicht nur von einer, sondern von einem ganzen System aus Traktorspuren durchzogen.

Wir entschieden uns für den linken Weg und gelangten kurze Zeit später in ein Waldstück. Hier fanden wir sie schließlich, die zwei Häuser, die der Chor für ein Wochenende sein Zuhause nennen würde. Sie lagen inmitten einer großen Lichtung. Mein Vater sah auf die Uhr. Wir waren eine Stunde unterwegs gewesen.

Wir meinten zunächst, die einzigen zu sein, die hier waren. Dann aber öffnete sich eine Tür und eine Frau trat heraus. Sie erklärte, dass sie hergeschickt worden sei, um das Heim zu übergeben. Anders als in Maschen gab es hier nämlich kein Personal. Die Männer würden uns Knaben bekochen. Und nachts wären wir hier dann ganz alleine.

Ich teilte mir mein Zimmer mit David, einem von den Neuen. Er hatte hellblonde Haare und trug eine Brille, genauso wie sein bester Freund Christopher. Ich nannte die beiden deshalb immer Zwillingsbrüder. Das nahm David, anders als Christopher, mittlerweile aber eher amüsiert zur Kenntnis.

Da dies eine Reise ohne Eltern war, wurden wir früh ins Bett geschickt. Viel zu früh. Normalerweise würde ich jetzt stumm daliegen und von den Gesprächen meiner Zimmergenossen wachgehalten werden. Sie würden irgendwann verstummen, ich hingegen würde weiterhin stumm daliegen. Heute aber war ich nun mal der einzige, der außer David noch in diesem Raum schlief. So unterhielt er sich nicht mit irgendwelchen Anderen, sondern mit mir.

«Ey, ehrlich», sagte er, «ich hab’ jede Nacht Albträume. Ich hab’ erst einmal im Leben einen guten Traum gehabt!»

«Ja, klar!», antwortete ich, «Du kannst dich auch so gut an alle Träume, die du im Leben gehabt hast, erinnern!»

Mein Vater hatte mir einmal erzählt, dass man immer träumte. Auch dann, wenn man am nächsten Morgen glaubte, es nicht getan zu haben. Wie konnte David also sicher sein, dass er nicht schon viel öfter etwas Schönes geträumt hatte?

«Doch, ehrlich!», sagte er.

«Und da hast du keine Angst davor, einzuschlafen?»

«Ja, doch, ich hab’ mal versucht, nicht zu schlafen. Aber irgendwann war ich so müde, da ging das nicht mehr.»

Darauf wusste ich nichts zu antworten. Eine Zeit sagte keiner etwas. Ich glaubte schon, dass das Gespräch verebbt sei, als David plötzlich etwas fragte.

«Ey, soll ich dir ’ne Gruselgeschichte erzählen?»

«Was für ’ne Gruselgeschichte?»

«Die ist aus so ’nem Buch: Gänsehaut der Geister.» Er trommelte bedeutungsvoll mit den Fingern auf seinem Bettkasten herum. «Die heißt Mordbett. Soll ich sie erzählen?»

«Ja, mach!», antwortete ich, «Ich hab’ keine Angst!»

«Also», sagte David. Er sprach plötzlich mit kratziger, fast tonloser Stimme. «Ein Mann geht in einen Laden mit einem Verkäufer, der hat eine Augenklappe und einen langen Bart. Als der Verkäufer den Mann sieht, sagt er: ‹Spielen, spielen, spielen!› Am nächsten Tag geht der Mann wieder in den Laden und trifft wieder den Verkäufer mit der Augenklappe und dem Bart und der sagt wieder: ‹Spielen, spielen, spielen!› Noch einen Tag später geht er wieder in den Laden und trifft den Verkäufer und der sagt: ‹Spielen, spielen, spielen!› Da spielt der Mann und gewinnt ganz viel Geld.

Als er am nächsten Tag wieder in den Laden geht, sagt der Verkäufer: ‹Glauben Sie nicht, dass es besser ist, wenn Sie erst mal hier in meinem Gästezimmer schlafen? Bei Ihnen zu Hause ist das mit dem ganzen Geld doch bestimmt viel zu gefährlich!› Der Mann sagt Ja und wird von dem Verkäufer in einem kleinen Hinterraum gebracht. Dort steht ein Bett, das hat schwarze Bettwäsche und darüber hängt ein großes Holzbrett. Daneben steht ein Nachtschrank mit einem Glas Wasser und an der Wand hängt ein Bild von dem Verkäufer.

Als sich der Mann abends in das Bett legt, merkt er, dass er nicht schlafen kann. Er dreht sich zur Seite und betrachtet das Bild an der Wand. Da merkt er, dass man den Kopf des Verkäufers nicht mehr sieht. Er trinkt einen Schluck von dem Wasser, dreht sich zur anderen Seite und versucht wieder, zu schlafen. Als er irgendwann, Stunden später, wieder auf das Bild des Mannes guckt, merkt er, dass man nur noch die Beine des Verkäufers sieht. Er wartet eine Zeit lang und merkt, dass auch die Beine fast verschwunden sind. Da guckt er nach oben und sieht, dass das Holzbrett, das über dem Bett hängt, immer weiter runterkommt. Er weiß, wenn es ganz unten ankommt, wird er ersticken. Er rollt aus dem Bett raus und ruft die Polizei. Und die findet heraus, dass in dem Wasser Schlafmittel drin war, aber so viel, dass der Mann davon nur noch wacher wurde. Und der Verkäufer hat schon ganz viele Menschen unter dem Holzbrett erstickt!»

Eine Zeit lang schwiegen wir.

«Was hat der Mann denn gedacht, wofür das Holzbrett da ist?», fragte ich schließlich.

«Der hat bestimmt geglaubt, das ist nur zur Zierde für das Bett», sagte David.

Ja, das war wohl die plausibelste Erklärung. Ich würde mir wohl auch kaum etwas dabei denken, wenn ein großes Brett über einem Bett hängen würde. Was konnte ein Holzbrett einem schon tun? Ich jedenfalls hatte vorher nicht gewusst, dass man unter so etwas ersticken konnte. Aber das war es wohl auch gewesen, worauf der Verkäufer mit dem Bart und der Augenklappe sich verlassen hatte.

Und etwas, auf das sich möglicherweise auch andere Leute verließen.

Ich warf einen Blick nach oben. Dort war kein Holzbrett, unsere Betten standen unter einem Schrägdach. Doch was wenn – Was wenn das Holzbrett so in die Zimmerdecke eingebaut war, dass man es nicht sehen konnte?

Mein Herz begann zu rasen. Eben noch war ich hellwach gewesen, weil ich nicht einschlafen konnte. Jetzt war ich es, weil ich nicht einschlafen durfte. Ich musste die Zimmerdecke im Auge behalten, sehen, ob sich dort irgendetwas bewegte, wissen, ob das Holzbrett kam, mich zu ersticken.

Mein Zimmergenosse David schlief mittlerweile tief und fest. Auch die Männer schienen nicht mehr lange aufbleiben zu wollen. Sie wurden immer leiser und löschten schließlich draußen im Flur das Licht.

Ahnte denn keiner etwas? Oder hatte jemand ihnen Schlafmittel ins Wasser geschüttet wie der Verkäufer dem Mann? Würde ich am Ende der einzige sein, der mitbekam, wie das Holzbrett ihn holte?

So lag ich da, Stunde um Stunde.

Stunde um Stunde um Stunde.