Schafe ohne Hirtin

Perlen von Holstein Folge 16

April 1998

Die Sonne schien, die Vögel sangen, die Blumen blühten. Mit anderen Worten: Es war ein Tag wie in einem dieser bescheuerten Volkslieder, die meine Flötenlehrerin mich immerzu spielen ließ.

Mit zusammengekniffenen Gesichtern traten mein Vater und ich vor das Haus. Wir wussten: Die nun folgende Dreiviertelstunde würde die Hölle sein. Gemächlich trotteten wir zur Haltestelle – der Bus würde ohnehin Verspätung haben.

Tatsächlich sollte es noch rund zehn Minuten dauern, ehe er kam. Als sich die Türen öffneten, schlug uns ein übelriechender Dunst entgegen. Der Gedanke, in diese Mixtur aus Parfumdüften steigen zu müssen, ließ uns beide innerlich stöhnen. Doch welche Wahl hatten wir?

Jedes Jahr war es das Gleiche. Sobald sich im März zum ersten Mal die Sonne zeigte, fielen sie über Finkenwerder her: Heerscharen von Rentnern, die Busse und Fähren verstopften. Ihr Ziel war Cranz, ein am äußersten Rand Hamburgs gelegener Mini-Stadtteil. Nennenswerte Attraktionen gab es dort keine, nur efeubewachsene Altbauten aus Rotklinker. Eben genau das, was Omas lieben. Die meisten von ihnen aber hielten sich nicht wirklich draußen auf, sondern strömten zielsicher in die Gaststätten und Cafés, um dort zu klönen.

Die Busfahrt ging einigermaßen reibungslos vonstatten. Auch die Fahrt mit der Fähre schien heute nur durchschnittlich nervtötend zu sein. Sie war schon beinahe überstanden. Das Schiff musste noch am Dock 10 und seinem berühmtem Wandgemälde vom alten Hamburger Hafen vorbei, dann würde es anlegen.

Mein Vater und ich standen bereits jetzt auf, wir wollten dem großen Gedränge zuvorkommen.

Die Dame zu meiner Rechten ließ sich davon nicht stören.

«Könnten Sie meinen Sohn bitte kurz durchlassen?», sagte mein Vater.

«Wieso denn? Wir haben doch noch Zeit!», entgegnete sie.

Nun war es meinem Vater wirklich zu viel.

«Also, jetzt entschuldigen Sie mal: Mein Sohn und ich haben gleich einen Termin! Das hier ist keine Hafenrundfahrt, sondern ein Linienschiff für Berufstätige.»

«Ach, so», sagte die Alte. Widerwillig machte sie Platz.

Ich sollte in den folgenden Jahren noch häufig von diesem Erlebnis erzählen. So häufig, dass mein Vater irgendwann nur noch Perle von Holstein sagte, wenn ich wieder damit anfing. Perle von Holstein war eigentlich der Name einer Reihe von Milchprodukten gewesen. Der Freund der einstigen Mitbewohnerin meines Vaters hatte denjenigen gekannt, der sich diesen Namen ausgedacht hatte. Immer wieder hatte er das erzählt – vorzugsweise, wenn irgendwo ein Produkt der Marke Perle von Holstein auf dem Tisch gestanden hatte. Als Reaktion darauf hatte die Mitbewohnerin meines Vaters bald nur noch Perle von Holstein gesagt, wenn jemand etwas zum mindestens zweiten Male zu erzählen versucht hatte.

Frau Siebenkittel hatte sich für heute entschuldigt. Ihre Tochter feierte Konfirmation und da konnte sie unmöglich fehlen. Das hieß aber keineswegs, dass wir ein Chor ohne Leitung waren. Die Matthäus-Passion wurde nämlich gar nicht von ihr, sondern von einem Herrn Schoener dirigiert. Ihr wäre lediglich das Ein- und Ansingen zugefallen. Diese Aufgaben übernahm aber jetzt nicht etwa ebenfalls Herr Schoener, sondern ein gewisser Marc.

So wie sie seinen Namen ausgesprochen hatte, hatte ich geglaubt, dass Marc eine Art Totto wäre. Jemand, dessen ganzer kugelrunder Körper Gemütlichkeit ausstrahlte. Der Mann, der uns heute im Gemeindehaus des Hamburger Michels empfing, war alles, nur nicht das. Er hatte ein hageres Gesicht, eine drahtige Brille und einen Pullover, dessen Muster dem einer Wolldecke glich. Mit mürrischen Augen besah er uns Hereinkommende. Ich fühlte mich, als wäre ich auf frischer Tat bei irgendwas ertappt worden. Dabei war ich mir absolut sicher, in jüngerer Zeit nichts Schlimmes ausgefressen zu haben.

Es dauerte nicht lange, da bestätigte sich mein erster Eindruck.

Ein Knabe, der zu spät war, vergaß in seiner Hektik, die Tür hinter sich zu schließen.

«Bist du in der U-Bahn geboren?», fauchte Marc ihn an.

Ein Spruch, der für Erwachsene typisch war, und einer, der mich rasend machte. Als ob eine U-Bahn das einzige Verkehrsmittel wäre, dessen Türen sich selbsttätig schlossen. Aber das war wohl nicht entscheidend. Entscheidend war, dass man wehrlose Kinder mit dummen Sprüchen nerven konnte. Am schlimmsten fand ich ja: ‹Wenn dein großer Bruder sagt: «Spring aus dem Fenster!» Springst du dann?›. Natürlich, jederzeit, wenn sich dieses Fenster im Erdgeschoss befindet.

Da merkte man mal so richtig, was man an Frau Siebenkittel hatte. Die machte solche Sprüche nicht. Sie war im Übrigen als Chorleiterin deutlich genügsamer als Marc. Der unterbrach uns beim kleinsten Fehler mit jähzornigem Händeklatschen. Ich konnte mir nicht helfen: Dieser Mann machte mir irgendwie Angst.

Ich tröstete mich damit, dass er niemand war, der viel zu sagen hatte. Er war einer von den Männern, einer von Frau Siebenkittels Freunden, eben Marc. Herr Schoener hingegen war Chef von uns Knaben, einem Erwachsenenchor und einem Orchester. Trotzdem war er viel netter. Nur ein einziges Mal hatten wir bei der gestrigen Generalprobe den ersten Satz der Matthäus-Passion singen müssen.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Es zeugt übrigens von Größe, dass Frau Siebenkittel das Feld auch mal anderen Musikern überlassen konnte. Nicht wenige – auch solche, die das gar nicht nötig hätten – haben damit so ihre Probleme. So weigerte sich Georg Friedrich Händel einst, Johann Mattheson ans Cembalo zu lassen. Der bestand aber darauf. Es war schließlich seine Oper, die hier gespielt wurde. Die beiden gerieten derart heftig aneinander, dass sie sich schließlich duellierten. Händel wäre wohl vor den Toren der Hamburger Gänsemarkt-Oper aus dem Leben geschieden, doch der Degen Mattesons prallte an einem mettallernen Knopf seines Mantels ab. Die beiden versöhnten sich wieder und schon ein Jahr später sang Mattheson in Händels Opern mit, als wäre nichts gewesen.

Weil die Matthäus-Passion so erschütternd war, sollten wir bei ihr keine roten Pullover, sondern nur die weißen Hemden tragen. So eingekleidet betraten wir die Empore des Michels.

Sie hätte gut als eine vollwertige Etage durchgehen können.

Hatten wir sonst schon so manches Mal dicht zusammentreten müssen, um überhaupt alle Platz zu finden, blieben heute die hinteren Reihen leer. Dabei waren wir ja nicht die einzigen. Vor uns stand noch der Erwachsenenchor und das Orchester. Ich schätzte, dass unsere Entfernung zu Herrn Schoener dreißig bis vierzig Meter betrug.

Und da war noch lange nicht Schluss: Auf der gegenüberliegenden Seite war noch Platz für einige hundert Zuhörer. Und wenn der einmal nicht reichte, gab es bei der Orgel sogar eine zweite, höher liegende Empore. Ob man auch in den Bereich hinter der marmornen Brüstung gelangen konnte, die sich unterhalb der Dachrundung befand, war nicht auszumachen. Wahrscheinlich musste man dafür durch das Fenster hineinklettern.

Das war er also, der berühmte Michel. Imanuels Äugelein hatten vorhin geleuchtet wie zwei Stern. Nicht oft genug hatte er betonen können, wie sehr er diese Kirche liebte. Ich konnte das irgendwie schwer nachvollziehen. Sicher, groß war sie, doch das war St. Jacobi auch. Warum also war gerade sie das Hamburger Wahrzeichen geworden, was machte sie so besonders? Die vielen, vielen goldenen Schnörkel vielleicht? Sowas gab es doch auch in der Laeiszhalle. Und gehörten zu einer schönen Kirche nicht bunte Fensterscheiben?

Herr Schoener hob die Arme und gab dem Orchester das Zeichen, mit dem Spielen zu beginnen. Blasinstrumente und Geigen erklangen, dazu rhythmisches Gebrummel. Es klang wirklich genau wie auf der CD.

Angst, unseren Einsatz zu verpassen, hatte ich keine. Zum einen, weil Herr Schoener versprochen hatte, uns beizeiten einen Wink zu geben, zum anderen, weil das nicht einmal nötig war. Frau Siebenkittel hatte uns nämlich in den Proben wieder und wieder die Tonfolgen vorgesungen, die unseren Einsätzen vorweggingen. Ich hatte sie mittlerweile so gut verinnerlicht, dass ich sie auch auf der CD meiner Mutter mühelos heraushören konnte. Die erste ging so:

music snippet

Zehn Minuten später war unser Werk getan. Wir durften abziehen und nach Hause fahren. Meine Eltern und all die anderen Erwachsenen hingegen würden sich noch über drei Stunden lang von der Matthäus-Passion erschüttern lassen. Ich konnte ihnen dabei nur viel Vergnügen wünschen.