Wiewohl ihr Herz in Tränen schwimmt

Perlen von Holstein Folge 15

März 1998

Die Begeisterung stand meiner Mutter ins Gesicht geschrieben.

«Lennart, weißt du eigentlich, wo ihr mitsingen dürft?» Auweia: Eiskalt erwischt.

«Ähm, nö –», antwortete ich.

«Bei der Matthäus-Passion!», sagte meine Mutter.

Sie schien sich an meiner Unkenntnis nicht zu stören. Von daher konnte ich wohl fragen.

«Was ist die Matthäus-Passion

«Die Matthäus-Passion ist sowas wie das Weihnachts-Oratorium nur für Ostern, also, naja, eigentlich für Karfreitag. Da geht es darum, wie Jesus gekreuzigt wird, und das ist auch von Bach!»

Weihnachts-Oratorium, ja, damit konnte ich schon eher etwas anfangen. Das hatten meine Mutter und ich einmal im Fernsehen gesehen. Es hatte mir durchaus gefallen, aber: War das nicht eher so etwas wie eine Oper gewesen? Mit dicken Menschen, die ihre Arien schmetterten und unüberhörbar Spaß dabei hatten? Was hatten wir da als Chor zu suchen? Und vor allem: War das nicht über drei Stunden lang gewesen? Dafür würden wir doch bestimmt ganz lange proben müssen. Und damit sollten wir bis zum Karfreitag fertig sein?

«Ist die Matthäus-Passion genauso lange wie das Weihnachts-Oratorium

«Die ist sogar noch länger, vier Stunden!»

«Boah!»

«Naja, ihr singt da nur am Anfang das erste Stück mit.»

Na, da war ich ja beruhigt.

«Wirst du denn dann da überhaupt hingehen, wenn wir nur am Anfang da sind?», fragte ich.

«Auf jeden Fall! Ich liebe die Matthäus-Passion! Weißt du, Bach war wirklich ein Genie. Der hatte zwanzig Kinder und hat es trotzdem geschafft, jede Woche eine neue Kantate zu komponieren.»

«Und waren die auch alle so lange?»

«Nein, die Matthäus-Passion ist nur so lange, weil er sie für einen besonderen Tag geschrieben hat. Die wurde ja früher beim Gottesdienst aufgeführt.»

«Und der Gottesdienst war dann auch so lange?»

«Der war sogar noch länger, da wurde ja noch stundenlang geredet. Du musst dir vorstellen, dass die Menschen damals viel mehr Zeit hatten als wir heute.»

Junge, Junge, über vier Stunden Gottesdienst. Wie hatten die das ausgehalten? Ich schlief ja schon bei unseren heutigen einstündigen immer fast ein.

Meine Mutter schien meine Gedanken zu ahnen: «Die Matthäus-Passion wird dir gefallen, die ist echt erschütternd!»

Es war nicht das erste Mal, dass meine Mutter mir von Johann Sebastian Bach vorschwärmte. Sie war ein wahrer Fan von ihm, meinte, es hätte eine Zeit vor Bach und eine Zeit nach Bach gegeben. Nun ja, wenn er jede Woche eine Kantate komponiert hatte, war er zumindest schon einmal fleißig gewesen.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Bach hat in der Tat fünf Jahre lang jede Woche eine neue Kantate abgeliefert. Das gelang ihm dadurch, dass er immer wieder abschrieb. Gerne von anderen, am allerliebsten aber von sich selbst. Die Arie Schlafe mein Liebster aus dem Weihnachts-Oratorium etwa komponierte er ursprünglich für die weltliche Kantate Herkules am Scheidewege. Hier beschreibt sie den Pfad der Wollust. Den Text hat er für die Übernahme in das Weihnachts-Oratorium nur geringfügig abwandeln lassen. So erklärt sich auch die Passage ‹Labe die Brust, empfinde die Lust›.

Meiner Mutters Schwärmerei für Bach war vor allem aus einem Grund bemerkenswert: Mein Vater mochte seine Musik ebenfalls. Normalerweise war es so, dass er das, was sie mir zu hören gab, verachtete. Er verachtete Vivaldis Vier Jahreszeiten, er verachtete Tschaikowskis Schwanensee. Und die von ihr erwählten Aufnahmen verachtete er sowieso. Ihm war das alles nicht anspruchsvoll genug, sagte er.

Meine Mutter wiederum konnte mit vielem von dem nichts anfangen, was er so in seiner umfangreichen CD- und Schallplattensammlung führte. Diese ganzen Sachen von diesen unbekannten oder modernen Komponisten waren ihr zu wenig emotional, sagte sie.

Es gab somit zwei Arten von Musik: Mama-Musik und Papa-Musik. Ein unversöhnlicher Gegensatz. Die Matthäus-Passion aber war beides: Mama- und Papa-Musik.

Sie musste wirklich verdammt gut sein.

Gespannt ging ich zur nächsten Probe. Ich wurde bitter enttäuscht.

Dieses O Lamm Gottes unschuldig, was wir zu singen hatten, war einstimmig, langsam und im Übrigen atemberaubend langweilig. Nicht eine einzige Stelle gab es, auf die man sich beim Singen freuen konnte. Keine Tonfolge, die einem einen Schauer über den Rücken jagte.

Was war denn daran bitteschön so toll?

Zuhause drückte meine Mutter mir eine CD in die Hand.

«Hier, zum Üben», sagte sie, «Wiedersehen macht Freude!»

Ich besah das Cover. Matthäus-Passion stand darauf zu lesen. Darunter war ein nackter Jesus zu sehen, der von einem großen, bernsteinfarbenen Tuch bedeckt wurde. Sein Anblick ließ mich erschaudern. Hatte er Schmerzen? War er gar tot?

«Das ist nicht die ganze Matthäus-Passion», erklärte meine Mutter, «sondern nur Auszüge.» Die CD hatte trotzdem eine Spielzeit von mehr als einer Stunde.

Ich ging in mein Zimmer und legte sie auf. Blasinstrumente und Geigen erklangen, dazu rhythmisches Gebrummel. Erst nach bestimmt zwei Minuten setzte der Chor ein, die Stuttgarter Hymnus-Chorknaben.

Ich wunderte mich ein wenig darüber. Meine Mutter hatte doch gesagt, dass der Thomanerchor der beste Knabenchor der Welt und die Matthäus-Passion ihr Lieblingswerk war. Warum also kaufte sie eine Aufnahme mit den Stuttgarter Hymnus-Chorknaben? Nun ja, vermutlich konnte sie sich eine vierstündige CD mit dem besten Knabenchor der Welt einfach nicht leisten. Qualität hatte schließlich ihren Preis. Wie teuer unsere CDs wohl waren?

Die Stuttgarter Hymnus-Chorknaben sangen übrigens nicht nur das O Lamm Gottes unschuldig. Sie sangen auch das, was bei unserem Auftritt ein Erwachsenenchor singen würde: «Ko-o-o-ommt, ihr Tö-öchter, helft mir kla-a-a-a-a-a-a-a-agen». Das war schon etwas merkwürdig. Laut Frau Siebenkittel hatte die Einteilung einen tieferen Sinn. Wir waren die Engel, die über allem schwebten, während die Erwachsenen das Volk darstellten.

Die Einteilung hätte mir vielleicht auch ermöglicht, die Stellen herauszuhören, an denen wir dran waren. Das nämlich war vollkommen unmöglich. Der Gesang war ein einziges gewaltiges Durcheinander, schlimmer noch als Exsultate Deo. Und dann waren da ja noch Blasinstrumente, Geigen und das rhythmische Gebrummel. Es verstand sich da fast von selbst, dass ich auch kein Wort vom Text mitbekam. Hätte es nicht auf der Rückseite der Verpackung gestanden, ich hätte nicht einmal gewusst, dass sie ‹Kommt ihr Töchter, helft mir klagen› sangen.

Worte, die mich befremdeten. ‹Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen› Wer sagte das? Jesus? Bestimmt, er wurde ja gekreuzigt und das war alles andere als schön. Doch warum Töchter? Mir war nicht bekannt, dass er welche gehabt hat. Vielleicht meinte er damit aber auch einfach nur Frauen, die mit ihm befreundet waren. Er soll ja schließlich ein netter Mensch gewesen sein, da hatten ihn sicher viele gemocht.

Rund zehn Minuten dauerte der erste Satz. Was ihm folgte, klang tatsächlich ein wenig wie das Weihnachts-Oratorium, also wie eine Oper: Die Stuttgarter Hymnus-Chorknaben schwiegen, stattdessen sang ein Tenor. Er klang, wie sich das gehörte, reichlich gut gelaunt. Dabei war das, was er zu erzählen hatte, alles andere als lustig: «Da versammleten sich die Hohenpriester und Schriftgelehrten und die Ältesten im Volk in dem Palast des Hohenpriesters, der da hieß Kaiphas, und hielten Rat, wie sie Jesum mit Listen griffen und töteten.»

Ich konnte sie regelrecht vor mir sehen, die Hohepriester, wie sie auf ihren seidenen Kissen herumlümmelten. Sie wollten es doch schließlich bequem haben, während sie dafür sorgten, dass es jemand anderem schlecht ging. Solche Menschen waren mir in diversen Inszenierungen der Augsburger Puppenkiste ja nun beileibe schon oft genug begegnet. Ich spürte Wut in mir aufsteigen.

War es das, was meine Mutter gemeint hatte, als sie die Matthäus-Passion als erschütternd bezeichnet hatte?

Wohl kaum. Was sie wohl hatte sagen wollen, war, dass die Matthäus-Passion einen sehr traurig machte. Aber das machte sie mich nicht. Der Tenor klang, wie gesagt, reichlich gut gelaunt, der Einleitungschor war kaum zu verstehen gewesen.

Ich musste doch sagen, dass mir dieses Werk nicht gefiel. Es war nicht so, dass ich es verachtete wie A Hymn to the virgin – Bach hieß ja nun auch nicht Benjamin mit Vornamen. Es brachte mich aber eben auch nicht beinahe zum Weinen wie Die Nacht ist vorgedrungen. Die Matthäus-Passion ließ mich einfach kalt.

Ich beschloss, das für mich zu behalten. Ich wollte doch kein Banause sein, der etwas nicht mochte, das sowohl Mama-, als auch Papa-Musik war.