Die Degradierung

Perlen von Holstein Folge 10

Dezember 1997

Bei der Generalprobe im Altersheim Tabea fiel Frau Siebenkittel etwas auf.

«Lenni-Löwe, du singst ja gar nicht richtig mit. Kannst du das Stück etwa nicht auswendig?»

«Ähm – doch.»

«Dann sing doch mal bitte alleine.»

«Ähm – Ei, so kommt – und lasst uns laufen! Stellt euch – Ähm –»

«‹Stellt euch ein, groß und klein›, Lenni-Löwe! Kannst du wenigstens die anderen Stücke? Sing doch mal bitte die letzte Strophe von Es ist ein Ros entsprungen

«Ähm – Das Röslein, das so kleine –»

«‹Das Blümelein so kleine›, Lenni-Löwe! Bis zum nächsten Konzert kannst du alle Stücke auswendig, heute setzt du dich bitte zusammen mit den Neuen hin.»

So war es also schließlich doch passiert. Ich war doch noch vom unheilvollen Sog der Neuen erfasst worden.

Natürlich war es mir nicht gelungen, innerhalb von drei Wochen geschätzte zwanzig Lieder auswendig zu lernen. Zumindest nicht den Text. Dafür war es einfach zu viel auf einmal gewesen. Und ich konnte mich noch glücklich schätzen: Von den sechzehn Strophen, mit denen Fröhlich soll mein Herze springen aufwartete, sangen wir gerade einmal drei. Zwar hätte ich die Farbe, Freude und Festlichkeit dieses Stücks schon einmal gerne in Gänze erlebt. Aber wie zum Geier sollte man sich so viele Verse merken?

Ich schämte mich für meine Gedanken. Schließlich wusste ich: So etwas zu fragen, war ungeheuerlich. Natürlich konnte man sich so viele Verse merken. Wir alle hätten es innerhalb eines Tages schaffen müssen, wenn Frau Siebenkittel es nur verlangt hätte. Das waren eben die Ansprüche, die hier gestellt wurden. Wer damit nicht einverstanden war, der konnte gerne gehen.

Umso schwerer wog die Blamage. Alle hatten es gesehen: Lenni-Löwe schaffte es nicht. Nicht einmal läppische drei Strophen.

Wie ich es aber auch hasste, alleine singen zu müssen. Waren die Stimmen der anderen Knaben nicht da, brachte ich nur ein fast tonloses Ächzen hervor. Keine Vergleich zu dem kristallklaren Klang, den ich sonst aus meiner Kehle erklingen hörte.

Entsprechend froh war ich, als Frau Siebenkittel von mir abließ. Dabei stand mir das Schlimmste noch bevor: Der Raum bot nicht genug Platz, um den Neuen Stühle bereitzuhalten. So mussten sie sich bei ihren Müttern auf den Schoß setzen. Ein Schicksal, das nun auch mich erwartete. Bis zum Konzert würde ich keine Gelegenheit haben, meiner Mutter die Schande beizubringen.

Ich würde sie vor allen Leuten enttäuschen.

Alles verlief glimpflich. Meine Mutter war nicht begeistert, mich Neunjährigen eine Stunde lang auf ihren Schoß nehmen zu müssen. Böse aber schien sie nicht. Sie war zuversichtlich, dass ich das mit dem Auswendiglernen schon hinbekommen würde.

Gleiches galt offenbar für Frau Siebenkittel: Beim nächsten Konzert waren die Neuen ausgeladen. Ich hingegen durfte kommen und mich beweisen. Unsere Chorleiterin hatte mir einen Vertrauensvorschuss gewährt.

Es war meine letzte Chance, dem Sog der Neuen zu entrinnen. Ich durfte sie auf keinen Fall vertun.

In der darauffolgenden Woche lag ich jeden Abend auf meinem Bett und wälzte die Notenblätter. Alle halbe Stunde kam meine Mutter herein, um mich abzufragen.

«Ubi sunt gaudia –», sagte ich, «ni – nirgends mehr – denn da! Da die Engel singen – No – No – Ach, Scheiße!»

«‹Nova cantica›», las meine Mutter vor, «Warte, da fällt mir doch bestimmt ’ne Eselbrücke zu ein – Sagt dir Iduna Nova was, so eine Versicherung? Die haben doch zur Zeit so eine bescheuerte Werbung.»

«Ähm – Ich glaub’ schon.»

«Dann merk dir das doch einfach darüber!»

Das nächste Konzert fand in einem Ort namens Meldorf statt. Er lag so weit von Hamburg entfernt, dass meine Mutter und ich mit dem Intercity dort hinfahren mussten. Das verwunderte mich doch sehr. Ein Intercity war für mich immer ein Zug gewesen, mit dem man wochenlang verreiste. Die Fahrt mit ihm kostete schließlich locker ein- bis zweihundert Mark.

Am Eingang des Meldorfer Doms wurden wir von Frau Siebenkittel begrüßt. Sie war guter Dinge. Gottseidank, ich musste ihr nämlich noch etwas beichten.

«Du-u, Frau Siebenkittel – dieses A Hymn to the Virgin, das kann ich immer noch nicht –»

Gebannt wartete ich ihre Reaktion ab. Die Möglichkeit, dass sie mir den Kopf abriss, war da. Wenn sie nicht gar beschloss, mich endgültig vom Sog der Neuen verschlingen zu lassen. Sie tat nichts dergleichen.

«Ach, das macht doch nichts, Lenni-Löwe», erwiderte sie, «bei dem Stück dann einfach hinsetzen und intelligent gucken!»

Intelligent gucken, die hatte vielleicht Nerven! Als würden sie es im Publikum so nicht alle merken. Als würde man nicht den Kopf schütteln über ihn, diesen rothaarigen Bengel, der das Stück als einziger nicht konnte. So hatte man sich das bei einem Konzert des berühmten Neuen Knabenchors Hamburg aber nicht vorgestellt! Unglaublich, dass man so einen dort mitsingen ließ!

Was war dieses A Hymn to the Virgin aber auch für ein blödes Stück. Ein Th-Wort jagte das nächste: Thou, thee, thy, thine. Ich wusste, dass das kennzeichnend für die englische Sprache war. An sich fand ich es auch so cool wie alles daran. Was Herr Britten hier aber veranstaltete, war eindeutig zu viel des Guten.

Doch was war auch zu erwarten von einem, der Benjamin hieß. Benjamin, so hieß auch ein Junge in meiner Klasse. Ein schrecklicher Bursche, der zu allem Überfluss auch noch mein gegenwärtiger Sitznachbar war.

Neulich hatte man uns im Religionsunterricht die Geschichte von Adam und Eva erzählt. Sie hatte zu der Erkenntnis geführt, dass wir alle Geschwister waren, denn wir alle stammten von den beiden ab.

«Bruder!», hatte einer gesagt und seinem Nachbarn die Hand auf die Schulter gelegt.

«Bruder!», hatte der ebenso gesagt und seine Hand auf die Schulter von Benjamin gelegt.

«Bruder!», hatte der gesagt und die Hand nach meiner Schulter ausgetreckt. Nicht, ohne sie sogleich angewidert zurückzuziehen, versteht sich.

Wenn man so jemanden zum Namensvetter hatte, konnte das mit dem Komponieren ja nichts werden.

Uns wurde vor den Konzerten nie gesagt, in welcher Reihenfolge die Stücke drankamen. Frau Siebenkittel flüsterte uns auf der Bühne den Namen des nun folgenden Werks zu. Wer sie wie ich nicht verstand, musste es sich aus den gesummten Anfangstönen zusammenreimen. Das gelang mir fast nie. So wusste ich oft erst, welches Lied eigentlich dran war, wenn die anderen es schon sangen.

Für A Hymn to the Virgin galt das nicht, das war unverkennbar. Frau Siebenkittel warf mir dennoch zur Sicherheit ein kurzes Lächeln zu. Es war für mich an der Zeit, mich hinzusetzen und intelligent zu gucken.

Ich war bemüht, es mit Würde zu tun. Ein Ding der Unmöglichkeit. Intelligent gucken, wie ging das überhaupt? Machte man einen fröhlichen oder einen traurigen Gesichtsausdruck? Blickte man zum Boden oder doch eher zur Decke? Sah man ins Leere oder zu einer von den Omas in der ersten Reihe?

Doch war das ein generelles Problem: Wohin mit den Augen beim Konzert? Am einfachsten wäre es ja, die ganze Zeit zu Frau Siebenkittel zu sehen. Doch davon fühlte sie sich am Ende nur provoziert. Wenn es also nicht gerade nötig war, sie also keinen Einsatz oder Zeichen gab, blickte ich von ihr weg.

A Hymn to the Virgin war nicht nur schwer, es war auch elendig lang. Mehrere Seiten umfasste das dazugehörige Notenheft. Dennoch, auch dieses Stück ging irgendwann zu Ende. Ich durfte wieder aufstehen.

So rückblickend betrachtet war das mit dem Sitzen und intelligent Gucken weit weniger verfänglich gewesen, als ich erwartet hatte. Wenn ich es so recht überlegte, brachte manch anderes Stück mich in weit größere Bedrängnis. Am allermeisten eigentlich die, die mir am besten gefielen. Die, die sich ganz der Farbe, Freude und Festlichkeit verschrieben hatten, also. Ich beherrschte sie so gut, dass ich sogar die Stellen mitsang, die ich eigentlich gar nicht mitsingen sollte. Die Mittelstrophen nämlich waren eigentlich unseren Favoriten vorbehalten.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Im Vorwort seiner Psalmen Davids erklärt Heinrich Schütz peinlich genau, wie diese zu besetzen sind. Nicht einen Chor soll es geben, sondern gleich mehrere. Chor ist dabei nicht gleich Chor, es wird unterschieden zwischen Favorit- und Kapellchören. Die Favoritchöre sind für diejenigen, «welche der Kapellmeister am meisten favorisieren und aufs Beste und Lieblichste anstellen soll», auf gut Deutsch: für die Solisten. Alles übliche Sängermaterial hat sich in den Kapellchören einzufinden. Sollte es damit nicht einverstanden sein, kann man es unbesorgt durch Instrumente ersetzen. Es dient ohnehin nur dem «starken Getön». Schütz nannte Solisten also Favoriten. Eine beeindruckend ehrliche Wortwahl und eine, die zum Nachahmen anregt.

So oft ich mir auch vornahm, dass es mir nicht noch einmal passieren würde, es geschah einfach immer wieder.

«Heute geht aus seiner Kammer –», sang ich. Außer mir taten das nur die Favoriten.

Mein Gesicht wurde heiß. Verdammt, jetzt hatte ich mir schon wieder einen schweren Patzer erlaubt! Und bestimmt hatten es alle Leute gesehen und alle Knaben gehört.

‹Ach, der Lenni-Löwe wieder, unser kleiner Lieblingshochstapler!›

Was Frau Siebenkittel nach dem Konzert zu mir sagen würde, mochte ich mir da gar nicht erst ausmalen.

Sie war des Lobes voll.

«Ja, Lenni-Löwe, das hast du heute wirklich super gemacht, du hast ja echt schnell die Texte alle gelernt, ich bin wirklich stolz auf dich! Morgen, wenn die Neuen wieder da sind, darfst du dann natürlich auch wieder alle Stücke mitsingen. Nur eine Sache noch: Guck doch beim Konzert bitte immer zu mir und nicht zu der ollen Kirchenmaus, die da irgendwo hinten in der Ecke rumwühlt.»

Mir ging ein Licht auf. Ach, dahin sah man im Konzert: Zur Chorleiterin. Ja, warum sagen Sie das denn nicht gleich, Frau Siebenkittel? Das konnte ich doch machen, das war doch nun wirklich kein Problem.