Vorhang auf für die rote Elite

Perlen von Holstein Folge 9

Der Tag meines ersten Auftritts begann damit, dass meine Mutter mich ins Bad schleifte. Das Badewasser lief bereits.

«Los, jetzt, hurtig! Rein, raus!», sagte sie.

‹Rein, Raus!›, die hatte mal wieder Ideen. Baden empfand ich als Verschwendung meiner kostbaren Lebenszeit, wenn ich friedlich vor dem Fernseher sitzend dazu gedrängt wurde. Saß ich dann aber einmal in der Wanne drin, kam ich so schnell nicht mehr aus ihr heraus.

Heute sollte es tatsächlich anders sein. Das einlaufende Wasser fing gerade an, warm zu werden, da polterte meine Mutter schon gegen die Tür.

«Los, jetzt komm raus, der Bus fährt gleich!», rief sie.

Widerwillig drehte ich das Wasser ab und kletterte aus der Wanne. Nachdem ich mich abgetrocknet hatte, zog mir die bereitliegende Wäsche über: Socken, Unterhose und ein Unterhemd. Nichts, in dem ich vor die Badezimmertür treten wollte.

«Mama, ich will nicht rauskommen, wenn Henning da steht und guckt!», sagte ich.

«Der guckt nicht! Der liegt im Bett und schläft, jetzt komm!»

Ich öffnete die Tür einen Spalt breit und streckte den Kopf heraus. Tatsächlich, auf dem Flur war niemand. Doch wie ich meinen großen Bruder kannte, lag der schon längst irgendwo auf der Lauer. Von daher ging ich mal lieber auf Nummer Sicher. Ich riss die Tür auf und rannte wie der Wind.

In meinem Zimmer stand meine Mutter, das Oberhemd in der Hand. Ich war noch nicht mal ganz zum Stehen gekommen, da hatte sie es mir auch schon übergestülpt. Auch der Chorpullover und die schwarze Hose waren schneller angezogen, als ich es jemals für möglich gehalten hätte.

Für meine Mutter kein Grund, zur Ruhe zu kommen.

«Du setzt dich jetzt unten vor die Glotze und rührst dich keinen Zentimeter!», sagte sie.

«Mama, der Bus fährt doch erst ein einer halben Stunde», entgegnete ich.

«Lennart, ich habe es dir schon hundert Mal gesagt: Am Wochenende hat der Bus andauernd Verfrühung!»

Das widersprach meinen persönlichen Erfahrungen zwar voll und ganz, dennoch fügte ich mich. Auf dem Fernsehsessel würde ich wenigsten meine Ruhe haben. Dort würde ich sie endlich angemessen bestaunen können, meine Chorkleidung. Sie bestand aus einem weißen Hemd, Anzughose und Anzugschuhen. Prunkstück aber war der leuchtend rote Pullover. Durch ihn konnte man es noch auf hundert Meter Entfernung sehen: Ich hatte es geschafft, ich war Sänger des Neuen Knabenchors Hamburg.

Ich wusste seit über einem Jahr, dass man als Chorknabe beim Konzert Einheitskleidung tragen musste. Natürlich hatte ich mich gefragt, welchen Sinn das hatte. Meine Mutter hatte eine schlüssige Erklärung gehabt: ‹Ja, stell dir vor, da würden alle verschiedene Sachen tragen und dann hat da einer so ein lustiges Mickey-Maus-T-Shirt an, zu dem du die ganze Zeit hingucken musst. Dann kannst du dich doch gar nicht auf das Konzert konzentrieren.› Frau Siebenkittel hatte es sogar noch viel drastischer veranschaulicht: ‹Ja, wisst ihr, neulich, da war ich bei so einem Männerchorabend und dann hatte da einer der Männer sein Jackett nicht zugeknöpft und dann musste ich da die ganze Zeit hingucken. Das hat mir das Konzert echt irgendwie versaut.›

Das wäre eigentlich gar nicht nötig gewesen. Die Chorkleidung war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Seit ich sie das erste Mal gesehen hatte, hatte ich auf den Tag gewartet, da ich sie selbst würde anziehen dürfen. Und nun war es soweit.

Eine feierliche Stunde, die meine Mutter mir mit Fleiß verdarb.

«Jetzt komm, los, der Bus kommt in zehn Minuten!», drängte sie.

Ich stand auf und folgte ihr zur Haustür. Statt jedoch mit mir nach draußen zu gehen, verschwand meine Mutter im Bad.

Eine ganze Zeit geschah nichts.

«Mama, was machst du?», fragte ich.

Ich hörte, wie meine Mutter die Dusche aufdrehte.

«Halt den Bus für mich auf!», rief sie.

Der Ort meines ersten Auftritts war die Kreuzkirche Ottensen. Die Fahrt dorthin war bemerkenswert kurz. Gerade einmal eine halbe Stunde waren wir unterwegs und mussten nicht ein einziges Mal umsteigen.

Bei der Kirche angekommen, staunte ich nicht schlecht: Nicht wenige trugen ja noch gar nicht ihre roten Pullover, sondern nur die Hemden. Andere hatten gar überhaupt keine Chorkleidung anzogen, sondern lustige Mickey-Maus-T-Shirts und ähnlichen Unflat. Wollten die etwa, dass wir in der Generalprobe ein uneinheitliches Bild abgaben? Da saßen doch Leute auf den Bänken! Was sollten die von uns denken?

Über die Haltung so mancher Mitsänger konnte man sich sowieso nur immer wieder wundern. Viele kamen etwa nur Dienstags zur Probe, weil es nur Dienstags Pflicht war. Der Donnerstag war mehr als Zusatzangebot zu verstehen. Das war doch aber noch lange kein Grund, an ihm zu fehlen! Der Neue Knabenchor Hamburg war schließlich nicht irgendein Chor. Der Chorplan war hier Gesetz.

Die große Stunde rückte näher. Ich hätte wohl nervös sein müssen, ich war es aber nicht. Einfach, weil es dazu keinen Grund gab. Vorne auf der Bühne würde ich zwischen fünfzig Menschen stehen. Niemand würde Notiz von mir nehmen, wenn ich mich unauffällig verhielt. Das war das Schöne daran, im Chor zu singen.

Eine Sache aber bereitete mir Sorgen: Das Temperament unserer Chorleiterin Frau Siebenkittel. In den Proben war sie selten zufrieden. Ständig wurden wir von ihr unterbrochen und ausgeschimpft. Manchmal wurde sie sogar richtig wütend. War es nicht theoretisch denkbar, dass sie auch beim Konzert die Beherrschung verlor? Dass sie vergaß, wo sie war, und uns vor allen Leuten anfuhr? Nicht auszudenken, wie wir dann dastehen würden.

Mir blieb keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Wir wurden aufgefordert, uns im Vorraum der Kirche einzufinden. Dort nahmen wir die Konzertaufstellung ein. Bevor es jedoch endlich losgehen konnte, wurden Kerzen ausgeteilt. Ich bekam ein Exemplar ab, das schon arg weit heruntergebrannt war. Es kippte dennoch beinahe aus dem Halter, so schräg wie es stand. Noch schlimmer war es um den Docht bestellt. Er lag tief versunken in einem Sumpf aus Wachs. Eine halbe Ewigkeit musste mein Nachbar seine Flamme dagegenhalten, um ihn zu entzünden. Als es ihm endlich gelungen war, zogen die anderen bereits in die Kirche ein. Wir konnten nur hinterherhetzen.

Die Stimmung im Saal ließ mich meinen Ärger darüber vergessen. Er war vollkommen abgedunkelt, nur die Kerze auf dem Adventskranz und der Weihnachtsstern an Decke spendeten ein wenig Licht. Auf den Kirchenbänken herrschte andächtiges Schweigen. Das Einzige, was man vernahm, war das leise Surren der Orgel. Es kündete von unserer Ankunft. Was für ein Moment.

Vorne am Podest wurden wir von unserer Chorleiterin empfangen. Sie schenkte uns Verspäteten ein Lächeln. Als wir unseren Platz eingenommen hatten, sah sie zu Boden und hielt einen Augenblick inne. Dann hielt sie sich die Stimmgabel ans Ohr, summte die Anfangstöne und gab den Einsatz.

«Tochte-er Zion freu-eu-eu-eu-eue dich! Ja-u-a-a-auchze laut Jeru-usalem!», sangen wir.

Die Farbe, Freude und Festlichkeit verfehlte auch dieses Mal nicht ihre Wirkung. Binnen weniger Sekunden war ich in Jubelstimmung. Und obwohl das Publikum weiterhin stumm dasaß, wusste ich, dass es ebenso begeistert war. Von diesem Lied musste man einfach froh werden.

Nach Tochter Zion, freue dich kam Es kommt ein Schiff, geladen. Dann sangen die Männer ein Stück namens Die Nacht ist vorgedrungen. Es kam mir zunächst sehr traurig vor, noch viel trauriger als der Anfang von Es kommt ein Schiff, geladen. Ich hätte am liebsten geweint. Dann aber hörte ich, dass genau das nicht gefordert war.

«Auch wer zur Nacht gewe-einet, der stimme froh mi-it ein, der Morgenstern besche-einet auch deine Angst und Pein!»

Ich überlegte, wie das wohl gemeint war. Ich kam zu dem Schluss, dass es mit dem Lied wohl einfach war wie mit dem Kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzern. Das erfror zwar am Ende der Geschichte, fühlte sich aber wohl. Es durfte nämlich nun zu seiner Großmutter in den Himmel.

Beschlossen wurde unser Adventsintro – so nannte Frau Siebenkittel den Konzertanfang – von Der Morgenstern ist aufgedrungen. Die Farbe, Freude und Festlichkeit kehrte zurück und machte mich glücklicher denn je. Nach so viel Traurigkeit wirkte sie irgendwie befreiend.

Danach begann der Hauptteil des Konzerts. Im Saal wurden die Lichter eingeschaltet. Die Kerzen verschwanden in eine Kiste, die Neuen ins Seitenschiff. Sie waren ab jetzt nur noch Zuhörer. Das war der Preis der Vorzugsbehandlung.

Während wir nun Es ist ein Ros entsprungen sangen, fiel mir etwas auf: Die Schnur, mit der der Weihnachtsstern an der Decke befestigt war, war ja wirklich verdammt dünn. Der Stern hing buchstäblich an einem seidenen Faden. Man konnte ihn fast gar nicht sehen. Das war schon beängstigend, bedachte man, wie schwer so ein Weihnachtsstern sein musste. Aus der Entfernung konnte ich das Material nicht recht bestimmten. Es sah mir aber verdächtig nach rotem Bernstein aus. Solcher wog doch aber sicher einiges. Wie konnte man da so verrückt sein, den Stern an eine so dünne, beinahe unsichtbare Schnur zu hängen. Was, wenn er sich jetzt löste und Frau Siebenkittel auf den Kopf fiel? Dann hätten wir keine Chorleiterin mehr!

So in Gedanken versunken, merkte ich kaum, wie die Zeit verging. Schnell, viel zu schnell war das Konzert vorbei. Das Publikum klatschte minutenlang frenetischen Beifall. Frau Siebenkittel nahm ihn mit einer Verbeugung entgegen und leitete ihn an uns weiter. Wir durften uns nicht verneigen. Das war seltsam, bei Schulaufführungen durften wir das immer. Meine Jubelstimmung vermochte das nicht zu trüben. Ich freute mich schon auf das, worauf es hinauslief: Die Zugabe.

In Windeseile waren die Kerzen wieder ausgepackt und die Neuen aufs Podest zurückgeholt. Gemeinsam mit dem Publikum stimmten wir nun an zum großen O du fröhliche. Wir hatten das Lied nie geübt, doch das machte nichts. Ich kannte es bereits von irgendeiner Kassette. Das konnte einen zwar skeptisch werden lassen, doch: Von unserem Chor gesungen stand das Stück in Puncto Farbe, Freude und Festlichkeit einem In dulci jubilo selbstverständlich in nichts nach. Ein einfach nur himmlischer Abschluss, den einige Soprane mit melodischen Verzierungen weiter krönten.

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Unter abermals frenetischem Applaus zogen wir ab. Draußen angekommen, wurden wir von Frau Siebenkittel mit Lob überhäuft.

«Leute, das war wirklich ganz große Klasse, ein richtig gelungener Start in die Weihnachtssaison! Ich bin stolz auf euch! Wir sehen uns dann alle morgen in Tabea, ja?»

Es war uns wohl tatsächlich gelungen, all die Dinge, die es sonst immer zu bemängeln gab, nicht zu machen. Mit anderen Worten: Wir hatten perfekt gesungen.

Wunderstill beglückt traten meine Mutter und ich den Rückweg an. Die ganze Zeit betrachtete ich meine Chorkleidung. Zuhause würde ich sie ausziehen müssen. Doch bis es so weit war, würde ich sie mit Stolz tragen.