Farbe, Freude und Festlichkeit

Perlen von Holstein Folge 8

Urlaub in entlegenen Gebieten hatte ich nicht nur mit, sondern beinahe genauso häufig auch ohne Eltern gemacht. Mit den Eigenheiten von Jugendherbergen, Schullandheimen und ähnlichen Anstalten war ich bestens vertraut. Das Johann-Simonis-Haus war eine solche Anstalt und bot als solche kaum Überraschungen.

Zum Abendessen gab es ein Buffet mit allerlei Brot-, Wurst- und Käsesorten. Wie üblich waren das gute Mischbrot und die leckere Salami nach einer Viertelstunde vergriffen. Ich musste auf billiges Schwarzbrot und noch billigeren Schinken ausweichen.

Das aber war nur ein bisschen ungewohnt und kein wirklicher Grund zum Stöhnen. Bedeutend größer war das Elend bei den Getränken: Es wurden Tees gereicht, jede Sorte ein gallenbittrer Trank, der den Durst eher anregte als ihn zu stillen. Einzig Pfefferminz schmeckte halbwegs erträglich – wenn man ein halbes Pfund Zucker und ordentlich Süßstoff dazugab.

Voller Neid blickte ich zu den Knaben herüber, die bereits Bescheid wussten und ihre Eltern um Kleingeld angehauen hatten. In einer langen Schlange standen sie sich vor dem Cola-Automaten. Mit Ausnahme des Fachs mit Tafelwasser sollte er am Ende des Chorwochenendes völlig leer geräubert sein.

Das Johann-Simonis-Haus hieß auch Naturfreundehaus. Im Chor jedoch nannte man es einfach Maschen. Das war vermutlich in erster Linie der bequemeren Aussprache geschuldet. Die meisten hatten aber wohl auch nie ein anderes Gebäude des Ortes gesehen oder betreten.

Am Eingang von Maschen führte eine Treppe hinauf zu den Betreuerzimmern. An einer der Stufen hing ein Schild: «Bitte Schuhe ausziehen». Fast wie in einer Turnhalle, doch höchstwahrscheinlich aus anderen Gründen. Bestimmt wandelten die dort droben auf edlen Seidenteppichen. So etwas wollte man doch nicht mit Straßenschuhen beschmutzen! Vergewissern können würde ich mich nie, uns Knaben war der Zutritt verwehrt.

Wir schliefen in einem Nebengebäude, dem Bettenhaus. Man erreichte es durch einen Verbindungsgang im Keller. Dessen Boden und Wände waren mit grauen Bettvorlegern und Info-Plakaten reichlich verziert. Das änderte nichts daran, dass es auf Dauer echt lästig wurde, andauernd hierdurch latschen zu müssen.

Am Ziel angelangt, erwarteten einen aneinandergereihte Zimmer in Einheitsbauweise. Es gab ein bis zwei Etagenbetten, ein Waschbecken, einen Tisch mit zwei Stühlen und ein unpersönliches Gemälde.

Die Betten waren nicht aus dem üblichen Draht, sondern aus Holz gefertigt. Die Matratzen hingegen waren im typischen Jugendherbergsstil gehalten: Grau mit weißen Längsstreifen. Darauf zu schlafen fühlte sich an, wie auf einer Betonplatte zu liegen, die mit dünnem Schaumstoff überzogen worden war. Die Kopfkissen wiederum waren so durchgelegen, dass sie im Grunde nur noch aus Bezug bestanden.

Und dann hatten wir die Betten auch noch selbst beziehen müssen. Ganz ohne fremde Hilfe. Das Ergebnis sah aus wie Kraut und Rüben. Und es fühlte sich auch so an. Die ganze Nacht wälzte ich mich zwischen den Wölbungen meines Lakens und den Hohlbereichen meiner Bettdecke hin und her.

Wenigstens musste ich nicht im oberen Bett schlafen. Zu oft hatte ich es schon erlebt, dass mir mein Untermann in die Matratze pikste.

Maschen als solches bot mir keine Überraschungen. Die Art von Urlaub, die wir hier verbrachten, hingegen schon. In meinen Vorstellungen war so ein Chorwochenende etwa so abgelaufen: Wir aßen zusammen, wir schliefen zusammen und den Rest der Zeit verbrachte ich singend auf dem Hoppeltier. Natürlich probten wir zwischendurch auch mal, aber nie mehr als eineinhalb bis zwei Stunden, wie zuhause ja auch.

Die Wirklichkeit sah so aus: Wir aßen zusammen, wir schliefen zusammen und den Rest der Zeit verbrachten wir singend im Probenraum. Natürlich machten wir auch mal eine Pause, doch, abgesehen von der Mittagsruhe, nie mehr als fünf bis zehn Minuten. Wie zuhause ja auch.

Das Klavier im Probenraum klirrte entsetzlich. Schlimmer als das meines Klavierlehrers. Und dessen Tasten bestanden noch aus Elfenbein, so alt war es. Dahinter hing ein Bild des nächtliche erleuchteten Hamburger Rathauses. Ich hatte mich schon nach einem Abend daran sattgesehen.

Das Schlimmste aber waren die Stühle. Sie bestanden aus omahaftem Grünholz und opahaften Musterbezügen. Ich hatte zu allem Überfluss auch noch einen abbekommen, dessen Rückenlehne komplett aus Holz bestand. Die Knaben links und rechts von mir saßen auf welchen mit eingebautem Polster. Da konnte man schon in Selbstmitleid versinken.

Wäre da nicht unsere Musik gewesen.

Ich hatte gewusst, dass unser Weihnachtskonzert ‹In dulci jubilo –› hieß und nach einem gleichnamigen Lied benannt war. Die ganzen letzten Monate hatte ich mich gefragt, wann wir es denn endlich mal üben würden. Der Name verriet es doch schon: Es war ein schweres Stück, mindestens so schwer wie Exsultate Deo. Wenn wir es uns nicht bald vornahmen, würde ich das Weihnachtsprogramm wohl erst im nächsten Jahr mitsingen dürfen. Um Exsultate Deo auswendig zu können, hatte ich immerhin drei Monate gebraucht. Wie sollte ich ein In dulci jubilo da in nur wenigen Wochen draufhaben?

Schon bei der ersten Probe in Maschen war sie dann gekommen, die Stunde der Wahrheit.

«So, dann holt mal bitte raus In dulci, in Schnulzi», hatte Frau Siebenkittel gesagt.

Ich hatte nach meinem frisch zusammengeklaubten Notenstapel gegriffen und das knittrige Blatt herausgekramt. Zu meiner großen Überraschung war das Stück nicht einmal eine halbe Seite lang gewesen. So lang wie ein Lied aus dem Vorchor oder aus der Schule. Doch was wollte das schon heißen?

Verunsichert hatte ich zu unserer Chorleiterin geblickt. Diese hatte jedoch ohne viel Federlesens einfach ihren Einsatz gegeben. Bei einem Stück, das so schwer war galt offenbar: Augen zu und durch.

«In dulci jubilo-o-o, nun singet und seid fro-o-oh, unsres Herzens Wonne leit in praesepio und leuchtet als die Sonne –»

Ein bisher ungekanntes Glücksgefühl hatte Besitz von mir ergriffen. Das war ja gar nicht wie Exsultate Deo, so weder fröhlich noch traurig. Da war vielmehr eine Farbe, Freude und Festlichkeit, die in Sekundenschnelle in jede Zelle des Körpers vordrang. Ich hatte aufspringen und jubilieren, noch mehr aber das Stück noch einmal singen wollen. Und sei es auch nur bis «unsres Herzens Wonne».

Ich hielt das Lied für ziemlich einmalig. Bis ich die anderen Stücke unseres Weihnachtsprogrammes kennenlernte. Fröhlich soll mein Herze springen, Der Morgenstern ist aufgedrungen und Tochter Zion, freue dich standen In dulci jubilo stimmungstechnisch in nichts nach. Lediglich Es kommt ein Schiff, geladen schlug einen gänzlich anderen Weg ein. Der gefiel mir aber mindestens ebenso gut.

Es begann ganz traurig und man verstand gar nicht so recht, warum. Vielleicht war es aber auch gar keine Traurigkeit, sondern mehr Erstaunen. Erstaunen über das Schiff, das geladen kam. Es war ja sicher ein behäbiger Frachter, der dort einlief, mitten in der Nacht. Eine Nacht, in der es ganz plötzlich hell wurde.

«trägt Gottes Sohn voll Gna-a-a-aden», sangen wir. Aller Schmerz war wie weggeblasen. Wobei, nein, weggeblasen war er nicht. Doch die Freude überwog. Überwog und überwältigte. Als würde einer, der viel durchgemacht hatte, vor Glück weinen.

Wunderbar, einfach wunderbar.

Ich hatte weiß Gott schon vorher Weihnachtslieder gekannt. Schöne und auch schreckliche. Wann kommst du, Weihnachtsmann etwa, das fand ich richtig furchtbar. Eigentlich mochte ich Rolf Zuckowski. Doch was er sich dabei gedacht hatte, konnte ich mir beim besten Willen nicht erklären. Er ließ es von einem Kind singen, das gierig seine Wünsche vortrug. In den ersten Strophen tat es noch bescheiden, dann aber wurde es frech: ‹Me-ein Wunsch ist auch wirklich nicht sehr groß! Nur ein Auto, doch bitte nicht zu klein›. Das hätte sich vielleicht noch verschmerzen lassen, wäre da nicht diese Melodie gewesen. Sie beleidigte die Ohren dermaßen, dass man meinte, sie könnten jederzeit vom Schädel absprangen und sich aufs Klo zurückzogen.

Das war aber eine unrühmliche Ausnahme. Eigentlich konnte ich Weihnachtslieder fast immer gut leiden. Egal ob Süßer die Glocken nie klingen, Ihr Kinderlein kommet oder Leise rieselt der Schnee. Sie alle hatte ich immer gerne gehört und noch lieber gesungen. Nie hatte ich irgendetwas an ihnen vermisst. Jetzt aber erschienen sie mir auf einmal so zweitklassig, so reizlos, so unknabenchorhaft.

Wobei wir durchaus auch Lieder probten, die ich schon vorher gekannt hatte. Vom Himmel hoch, o Englein kommt war eines davon. Und das war nichts, das ich gutheißen konnte. Dafür gab es zwei Gründe.

Der erste war, dass es immer wieder passierte: Jemand sagte: ‹Wir singen jetzt Vom Himmel hoch, man freute sich ganz ungemein und dachte: ‹Juhu, wir singen Vom Himmel hoch, da komm ich her›. Und was sang man? Vom Himmel hoch, o Englein kommt!

Der zweite war dieses ‹Susanni, Susanni, Susanni› in jeder Strophe. Ich kannte Susanne und ich kannte Susanna. Den Namen Susanni hatte ich noch nie gehört. Ich fand, dass er ziemlich bescheuert klang. Wie eine Koseform, die keine war. Silben wurden durch sie schließlich nicht eingespart.

Was hatte diese Susanni denn überhaupt zu suchen, hier in diesen Weihnachtslied? Weihnachtslieder galten Gott, Jesus, Maria und Josef und niemandem sonst.

Wobei Susanni vielleicht auch nur ein anderes Wort für Maria war. Jesus hatte ja offenbar auch ganz viele Namen gehabt: Jesu, Jesum, Jesse und Jesaja. Und Maria, die hieß in Tochter Zion, freue dich sowohl Tochter Zion, als auch Hosianna.

Ein merkwürdiger Name, dieses Hosianna. Mein Sitznachbar Vinzent und ich hatten uns darüber etwas gewundert. Wir hatten deshalb stattdessen Rosianna gesungen. Das war auch ein Fantasiename, aber zumindest einer der Sinn ergab. Frauen, die in Liedern vorkamen, waren ja in der Regel schön. Und diese Schönheit wurde gerne mit der von Rosen verglichen, also Rosianna. Aber nein, es hieß Hosianna. Wie auch immer man auf die Idee kommen konnte, sein Kind so zu nennen.

Aber sei es drum. Über Tochter Zion, freue dich konnte man nicht meckern. In jedem Ton steckte diese Farbe, Freude und Festlichkeit, ohne die ich schon jetzt nicht mehr leben mochte. Ich konnte überhaupt nicht verstehen, was es da in der Männerreihe zu schimpfen gab: «Ey, müssen wir eigentlich wirklich jedes Jahr dieses bekloppte alte Lied singen?»