Wie es war im Anfang

Perlen von Holstein Folge 1

Die Idee für den Chor kam von meiner Mutter.

«Lennart, hast du Lust, in einen Chor zu gehen?»

«Was ist denn ein Chor?»

«Bei einem Chor treffen sich ganz viele Menschen und singen zusammen. Sowas gibt es auch für Kinder. Das ist mit Klassik, das wird dir gefallen.»

Singen, oh ja, singen war gut, singen tat ich immer gerne. Wenn es sich einrichten ließ, den ganzen Tag. Ich sang beim Modelleisen-bahnspielen, ich sang im Bus, ich sang auf der Straße. Und wenn sie uns zum Spielen nach draußen schickten, nahm ich sogleich das Hoppeltier, eines jener mit einer großen Feder am Boden fixierten Schaukelpferde und -motorräder, in Beschlag und wippte und sang so lange, bis ich zum Mittagessen wieder hereingeschliffen wurde. Zu musizieren machte mir solchen Spaß, dass ich lange Zeit geglaubt hatte, Leerkassetten wären teurer als solche, die schon Musik enthielten, denn da konnte man ja draufmachen, was man wollte. Ich war schon etwas entsetzt gewesen, als meine Mutter mir eröffnet hatte, dass das Gegenteil der Fall war.

Und Klassik – ja – Klassik war auch immer toll. Besonders, wenn in ihr gesungen wurde. Bei der neunten Sinfonie von Beethoven etwa, da spielten die Instrumente lustige Laternenumzugsmusik und ein Mann mit einer tiefen Stimme schmetterte dazu:

«Fro‑o‑o‑oh, fro‑o‑oh!» Das gefiel mir, das machte Spaß.

In einen Chor gehen wollte ich trotzdem nicht, denn: «Die anderen Kinder da ärgern mich bestimmt.»

«Ach, das glaube ich nicht. In einem Chor sind eigentlich nicht solche Kinder, die andere ärgern.»

Meine Skepsis blieb, doch meine Mutter ließ sich davon nicht beirren. Sie hatte die Frage ohnehin nur gestellt, weil sie sehen wollte, wie ich auf die vollendeten Tatsachen reagieren würde. Natürlich hatte sie mich längst angemeldet und alle Verträge unterzeichnet. Nächsten Donnerstag um Punkt fünfzehn Uhr würde ich meinen Dienst antreten.

Auf den Neuen Knabenchor Hamburg gebracht hatte sie übrigens meine Flötenlehrerin. Die war mit dessen Chorleiterin persönlich bekannt, hatte irgendwann auch mal bei ihr Gesangsunterricht gehabt und auch irgendwo noch ihre Telefonnummer rumliegen.

Nun muss man wissen, was meine Flötenlehrerin für ein Mensch war: Sie kam jede Woche zu spät, dachte sich für die Etüden und Lieder bescheuerte Texte und bescheuerte zweite Strophen aus und hatte am Steuer einen richtigen Bleifuß und zwar unabhängig davon, ob hinten jemand drin saß oder nicht. Richtig interessant wurde es aber erst, als sie einmal auf der Rückbank Milch verschüttete, infolgedessen es in dem Fahrzeug über Monate bestialisch stank. Kurzum: Eine Frau, die man einfach gern haben musste. Wenn sie nicht gerade die eigene Flötenlehrerin war. Die Telefonnummer, die sie meiner Mutter gegeben hatte, war natürlich falsch gewesen, doch das Schicksal hatte sich nicht mehr aufhalten lassen.

Schon wenige Tage später fand ich mich in einer Art Halle mit einem großen, rundlich geformten Klavier wieder. Meine Mutter tat das, was sie am aller ausdauerndsten konnte: Sie betrieb Konversation mit einer anderen Mutter. Versuche, sie von Gesprächspartnern wegzuzerren, hatten sich wiederholt als zwecklos herausgestellt. Ich würde mich wohl oder übel in Geduld üben müssen. Welch hartes Geschick.

Endlich wandte sie sich der Frau mit den kurzen, gefärbten Haaren zu, die hier das Sagen hatte und sich uns als Frau Siebenkittel vorstellte. Ein wundersamer Name, wie ich fand.

«Und wie heißt der Junge?»

«Lennart.»

«Ja, hm, also wir haben jetzt schon einen Lennart bei uns im Chor. Da werden wir uns wohl einen anderen Namen für ihn ausdenken müssen, damit wir nicht dauernd durch den Tüdel kommen.»

Ich verwunderte mich der Rede. Ich kannte mehrere Kevins, mehrere Philipps, mehrere Isabelles, doch ein anderer Lennart war mir noch nie begegnet. Für mich hatte immer festgestanden, dass ich der einzige war, der so hieß, so wie ich ja auch der einzige war, der keine Schleife binden konnte und nie mehr als einen Seilsprung schaffte. Bei so einem Chor schien es tatsächlich andere Menschen wie mich zu geben.

«Nennen Sie doch irgendwas mit Löwe, Frau Siebenkittel, er steht zurzeit total auf Löwen.»

«Gut, dann heißt er für uns ab jetzt Lenni-Löwe. Findest du das gut so, Lenni-Löwe?»

«Ja.»

«Okay, dann setz dich doch gleich zu den anderen Knaben in den Kreis.»

Auf den anderen Stühlen saßen nur Jungs. Das war erfreulich, kam aber keineswegs überraschend. Meine Mutter hatte mir bereits erklärt, dass ein Knabenchor ein Chor nur für Jungs war. So war Frau Siebenkittel in der nachfolgenden Stunde das einzige Weibsvolk, das anwesend war. Eines, das weit mehr als nur geduldet war.

«Jetzt macht doch beim Singen mal eine schöne Schnute und nicht so einen ollen Briefkastenschlitz.»

Aha, in einem Chor sang man also nicht einfach so vor sich hin wie im Kindergarten oder in der Schule. Man legte Wert auf Schönklang. Und in der Tat: Unsere hohen Sopranstimmen hörten sich gut an, viel besser als alles, was ich jemals gehört hatte. Doch wie sollte es auch anders sein: Das hier hieß ja Neuer Knabenchor Hamburg und war damit logischerweise der beste Knabenchor der Stadt, des Landes, ja vielleicht sogar der Welt. Was neu war, war schließlich immer gut, und was mit Hamburg zu tun hatte ja wohl sowieso.

Bereits nach fünf Minuten hatte ich einen Entschluss gefasst: Nie wieder wollte ich anders oder etwas Anderes als beim Chor singen. Eine halbe Stunde später hatte ich mich dann auch auf einen neuen Berufswunsch festgelegt: Ich wollte Chorleiter werden.

Nach der Probe ging ich zu Frau Siebenkittel. Eine Frage brannte in mir. Wir hatten heute in der Schule gelernt, dass Erwachsene nicht für immer arbeiteten, sondern irgendwann in Rente gingen. Manche Menschen mit sechzig, andere mit fünfundsechzig. Ich wollte wissen, wie es sich bei Chorleitern verhielt.

«Du, Frau Siebenkittel? Wann gehen Chorleiter in Rente?»

«Ach, Lenni-Löwe, Chorleiter gehen nicht in Rente. Die dirigieren solange, bis sie auf der Bühne tot umfallen.»

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Richtig. Und wenn man es nicht mehr abwarten kann, macht man es wie Altmeister Jean-Baptiste Lully und haut sich den Taktstock in den Fuß.

Eine Antwort, die mich zwar doch ein wenig erschütterte, mich aber in meinem Eifer nicht zu bremsen vermochte. Ich freute mich schon jetzt auf die nächste Probe.